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Tom Feuerstacke und Rüdiger Nehberg und der Drang zu Überleben

Na klar, schon seit ich ein Junge war, wollte ich ein Abenteurer sein. Doch daraus ist nichts geworden; weder habe ich meinen wunderschönen Körper aus der Stratosphäre zu Boden gestürzt, noch in einer zwei Meter langen Zigarre die Salzwüste in Schallgeschwindigkeit durchquert. Berge habe ich wenige bestiegen. Ich bin also zu Hause geblieben. Denn letztendlich muss sich jeder entscheiden, auf welches Abenteuer er sich einlässt. Bei einigen wird aus jugendlichen Träumereien mehr als Neugier und Begeisterung, es wird zu einer Passion. So wie bei meinem heutigen Gesprächspartner, der einiges hat, mit dem sich nicht nur Berge versetzen lassen.

GENERATION YPS

Ich bin ein Kind der Generation Yps, war experimentierfreudig und hatte das Abenteurer-Gen in mir. Aber du! Was braucht es, um ein Nehberg zu sein? 

Veranlagung, Eigeninitiative, Kreativität bis zum Abwinken und Spaß am Risiko. 

 

Das ist alles?

Okay, noch 'ne Portion Neugier auf die Welt. So wie bei mir: Ich bin meiner Mutter schon mit vier das erste Mal davongelaufen. Ich wollte meine Oma besuchen. Warum? Wegen ihrer tollen Trockenäpfel 

 

Klar. 

Natürlich habe ich mich verlaufen.

 

Hat man dich lange gesucht?

Na ja, schon am nächsten Tag fand mich die Polizei.

 

Mit vier Jahren; neugierig, eine Nacht unterwegs ... ein typischer Nehberg?

Nein, meine Mutter war da anders, sie passte dann höllisch auf mich auf. 

 

Hat´s funktioniert?

Das klappte dreizehn Jahre ganz gut. 

 

Zack – dreizehn Jahre waren rum und was machst du als Erstes? Du radelst nach Marokko. Hast du deinen Eltern davon erzählt? 

Nein. Die wähnten mich bei einem Freund in Paris. Der hat jede Woche eine vorgefertigte Ansichtskarte an meine Eltern geschickt. Währenddessen war ich auf dem Weg nach Marrakesch, um dort die Kunst der Schlangenbeschwörung zu erlernen. Ich war schon immer ein Schlangenfan.

 

Das ist ja abenteuerlich, deine armen Eltern. 

Tja, das war in mir veranlagt. Irgendwann kam das Survival dazu, die Kunst, unter extremen Bedingungen zu überleben. 

 

Survival – in welcher Form kommt so was dazu? 

Ich wollte weg von der Straße, weg von der Zivilisation. In den USA hörte ich von diesem Trend und das war das, was ich unterbewusst vermisst hatte. Damals, zu deinen YPS-Zeiten, war das nicht einmal ein Thema bei der Bundeswehr. Also habe ich dieses Survival, dieses Überleben, nach Deutschland importiert. Ich habe es mit Eigenversuchen immer weiter ausgeweitet; um mich bestmöglich unabhängig zu machen von allem Luxus. Um im Notfall wie ein Tier klarzukommen, reduziert auf Instinkte und Urfertigkeiten. 

 

Das ist Survival! Warum willst du in der Natur überleben können wie ein Tier? 

Weil ich oft überfallen worden bin, ausgeraubt bis aufs Hemd und  heimkommen wollte. Am Blauen Nil wurde mein Freund vor meinen Augen erschossen. Nach solch prägenden Erlebnissen lernt man, vor jeder Reise Gefahren bestmöglich zu analysieren und sich auf sie vorzubereiten, um sie zu minimieren. 

 

Wie kommt man abseits der Straße und ohne Zivilisation zurecht? 

Tiere können das auch. Vieles kann man sich bei ihnen abschauen.

 

Hast du keine Angst?

Ich muss wissen, ob die Angst begründet ist, wie man unbekannte Pflanzen auf Genießbarkeit testet, wie man Ekel überwindet und mit Insekten als Nahrung vorlieb nimmt. Das Wissen erhöht das Selbstbewusstsein, es minimiert die Angst. Ganz abtrainiert habe ich die Angst aber nie, sie ist ein wichtiges Alarmsignal.

 

Genau wie Ekel?

Genau wie Ekel! Ich habe gelernt, begründeten Ekel von unbegründetem zu unterscheiden. Eine Abneigung gegen Verwesendes ist durchaus begründet. Insekten hingegen kann man essen. 40 Jahre lang wurde ich als „Würmerfresser der Nation“ ausgelacht. Vor zwei Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation Insekten zur empfehlenswerten Nahrung der Zukunft erklärt. Somit war ich rehabilitiert – ein Vorreiter.

 

Muss ich ja noch viel lernen. Kommen wir zu den wilden Weiten des Meeres. 

Also zu meinen drei Atlantiküberquerungen. 

 

Genau.

Die waren mit dem Tretboot, einem Bambusfloß und einem massiven Baumstamm. Heute anzuschauen im Technik-Museum zu Speyer.

 

Die waren spektakulär. Immer allein?

Nein, beim Bambusfloß wurde ich von Christina Haverkamp begleitet, einer Ozean-Survivalistin. Aber das erste Mal, mit dem Tretboot, das stellte mich vor fast unüberwindbare Probleme. Ich hatte fürchterliche Angst vor Wasser! Außerdem wurde ich immer seekrank. Was am schwersten wog, war meine Null-Ahnung von Navigation. Der Reiz lag darin, dem vorzeitigen Tod ein Schnippchen zu schlagen.

 

Wie verlief das?

Zunächst habe ich einen alten Kapitän gesucht und gefunden, der mich mit Navigation vertraut machte; ich lernte den Umgang mit Karte, Kompass und Sextant. Die Angst vor dem Wasser habe ich mir bei den Kampfschwimmern in Eckernförde abtrainieren lassen. Was die Seekrankheit betraf, halfen nur Tabletten.

 

Warum fährt man mit dem Tretboot über den Atlantik?

Um einen Brief von Greenpeace an den Staatspräsidenten Brasiliens ins Gespräch zu bringen. Er betraf die Yanomami-Indianer. Sie wurden durch eine Armee von Goldsuchern fast ausgerottet. Das war ein Drama. Wenn ich von einer Armee spreche, meine ich 65.000 bewaffnete Männer, vierhundert Flugzeuge und hundert illegale Landebahnen. Die haben jeden Indianer umgelegt, der sich ihnen in den Weg stellte. Ich war Augenzeuge. Es war eine Pflicht für mich, zu reagieren. 

 

Was hast du getan?

20 Jahre lang mit verschiedenen Aktionen dieses Anliegen bekanntgemacht. Undercover als Goldsucher und Malariahelfer gearbeitet, die Weltbank konsultiert und über Filme, Bücher und  Vorträge eine ausreichend große Lobby geschaffen. 

 

Beeindruckend! Du hast also versucht, Politiker und Würdenträger unter Druck zu setzen. Selbst der Papst bekam deinen Willen zu spüren. 

Ihn wollte ich einbinden, weil fast alle Brasilianer Katholiken sind. Der Papst wollte mir keine Audienz gewähren. Ich sei ja nicht einmal Katholik, hieß es von seiner Nuntiatur in Bonn. Ich bin zu Fuß über die Alpen nach Rom. Das Medieninteresse sorgte dafür, dass ich doch Gehör fand. Er versprach zu helfen. Aber das war's.

 

Frustrierend. 

Na ja, es gab viele solcher Rückschläge. Sie dürfen einen niemals aufhalten und zweifeln lassen. Es hat zwanzig Jahre gedauert, bis die Yanomami ihren Frieden erhalten haben. Das war im Jahre 2000.

 

Hast du deinen Frieden gefunden? 

Nein. Es gibt immer neue Aufgaben, die bewältigt werden wollen; bei mir ist es seit über sechzehn Jahren das Thema weibliche Genitalverstümmelung. 

 

Eine titanische Aufgabe. Wo nimmst du die Energie her – in deinem Alter?

Aus der Kraft und Verpflichtung des Augenzeugen. Das motiviert total. Es bleibt einem nicht einmal Zeit, zu altern. Man muss vielseitig, ausdauernd und couragiert sein, um den Problememachern zu trotzen. Gerade beim Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Das ist eine fünftausend Jahre alte Tradition, die in fünfunddreißig Ländern praktiziert wird; mit über achttausend Opfern täglich. Davon sind die meisten Muslimas.

 

Um der Genitalverstümmelung ein Ende zu setzen, hast du die Organisation „Target“ gegründet. Was möchtest du erreichen? 

Ich will, dass Menschen diesen Brauch beenden. 

 

Es gibt aber auch Christen in Ägypten und Äthiopien, die diese Tradition bei ihren Töchtern anwenden.

Das stimmt. Aber Christen und Moslems bekommt man nur schwerlich in ein Boot. Also haben meine Frau Annette und ich uns entschieden, die Kraft und Ethik des Islam zu nutzen, um das Drama zu beenden. 

 

Warum gerade Islam? 

Weil ich damit gute Erfahrungen gemacht habe und ihm diese Kraft zutraue. Vor vierzig Jahren habe ich mit zwei Freunden auf Kamelen eine Wüste in Äthiopien durchquert, was vier lange Monate gedauert hat. Dort herrschte Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien. Wir wurden ausgeraubt, sollten zweimal erschossen werden. Aber unsere Stammesbegleiter haben uns davor bewahrt. Mit ihren Körpern als lebende Schilde. Das prägt, das schafft Vertrauen. Zu dieser Zeit begegnete ich einer Frau, die pharaonisch verstümmelt war. Das ist übelste Form der Verstümmelung. Zudem wollte man sie zwangsverheiraten mit einem Ekel von Mann. Sie floh und fand Schutz bei den eritreischen Freiheitskämpfern. Sie erzählte uns von den vollkommen tabuisierten Misshandlungen. Damals war ich zu jung und kam nicht auf die Idee, dass man sich in eine so alte Tradition einmischen könnte. 

 

Wann kam der Sinneswandel?

Durch die Erfolge bei den Yanomami. Da habe ich gemerkt, dass niemand zu gering ist, um etwas zu verändern. Es braucht nur Fantasie und Unternehmungsgeist. Dann ist vieles machbar. Durch das Buch „Wüstenblume“ wurde ich an diese grässliche Problematik erinnert. Ich informierte mich durch Recherche. Am Ende stand die Frage, wie eine Weltreligion wie der Islam neben all dem Terror außerdem noch so etwas zulassen kann.

 

Hattest du eine konkrete Idee, wie du dagegen angehen wolltest?

Ganz einfach: Ich musste die höchsten Geistlichen davon überzeugen, den Brauch zur Sünde zu erklären!

 

Und das geht so einfach?

Ich suchte zunächst Partner bei deutschen Organisationen. Die fand ich nicht. Ich wurde verhöhnt. Man sagte mir, der Islam sei nicht dialogfähig und man würde mir die Kehle durchschneiden. Um meine restliche Lebenszeit nicht mit solchen Angsthasen und Sesselpupsern zu vergeuden, habe ich den Rat von Amnesty International angenommen und mit Annette und Freunden meine eigene Organisation gegründet. 

 

Verzeichnet ihr Erfolge?

Wir haben es bereits nach sechs Jahren geschafft, die allerhöchsten Geistlichen der Welt zu einer Konferenz in die Azhar Universität von Kairo zu laden. Sie ist vergleichbar mit dem Vatikan. Der höchste Rechtsgelehrte, Großmufti Ali Gom'a, hatte dafür sogar die Schirmherrschaft übernommen. Da geschehen Wunder, wenn man seinen Gesprächspartnern auf Augenhöhe begegnet.

 

Wurde der Bitte entsprochen?

Ja. Einstimmig wurde die Tradition zur Sünde erklärt, zu einem strafbaren Verbrechen, das höchste Werte des Islam verletzt. Das war ein historisches Novum. Dennoch ist der Brauch noch lange nicht beendet. Der Beschluss, die Fatwa, geht nicht in die Köpfe der Leute.

 

Das wirst du aber so nicht hinnehmen?

Nein. Uns kommen ständig Ideen. Beispielsweise haben wir die Konferenz im sogenannten „Goldenen Buch“ dokumentiert. Es ist eine Predigtvorlage für die Imame. Ali Gom'a hat das Buch sogar mit einem Prolog geehrt. Aber meine größte Vision ist, dass diese Botschaft von Mekka aus verkündet wird. Unübersehbar, unüberhörbar. Auf dem Heiligen Platz an der Kaaba. Das bedarf der Zustimmung des saudischen Königs.

 

Alles Gute dabei und halte uns bitte auf dem Laufenden.

Das werde ich. Danke für euer Interesse.

INFO

Der 81-jährige Deutsche ist der Inbegriff eines Survivors – und noch weit mehr. Er ist Nativist für Menschenrechte: Er rettete das Volk der Yanomami und kämpft gegen weibliche Genitalverstümmelung.

Viele, viele weitere Infos zum Rüdiger Nehberg erfahrt Ihr am besten hier:

Autor Tom Feuerstacke / Illustration Thorsten Kambach

Erstmalig erschien dieser Text in Stadtgeflüster Interview

April 2019

​Alle Rechte bei Stadtgeflüster – das Interviewmagazin vom

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