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2022-11-07 Stadtgeflüster Illustration Ekki kurz.tif

Chiara Kucharski spricht Willi Hollendung über die realistischen Situationen eines Straßenkampfes.

KLEINE HEBEL – GROßE WIRKUNG

Dass Kampfsport längst nicht mehr mit Ressentiments gegenüber vermeintlichen Rowdys und Straßenschlägern verbunden wird, sondern vielmehr mit Selbstverteidigung, Konfliktvermeidung, gar Spiritualität oder schlichtweg Fitness, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zumindest vor Corona waren die Kurse nach ein paar Minuten ausgebucht und auch heute erfreuen sich die Angebote großen Interesses. Krav Maga ist ein israelisches Selbstverteidigungssystem, entwickelt und erstmals gelehrt von Imrich Lichtenfeld, Sohn eines Polizisten, in den 1930ern zur Verteidigung gegen antisemitische Schläger und später zur Nahkampfausbildung für das israelische Militär. Chiara Kucharski spricht mit dem langjährigen Trainer Willi Hollendung über die einfache Anwendung, Vorzüge auch für Frauen und realistische Situationen eines Straßenkampfes.

Wurdest Du schon einmal angegriffen?

Selbstverteidigung habe ich im Notfall noch nicht einsetzen müssen. In Jugendzeiten gab es die ein oder andere Pöbelei, die man oft deeskalieren konnte. Einmal hatte ein Freund durch bloßes Dazukommen geholfen: 2,10 m groß, gemütlich breit, mit dem legt man sich nicht an. Nachdem ihm gesagt wurde, er solle sich nicht einmischen, erwiderte er, ich sei sein Trainingspartner und er wolle sich mal ansehen, wie ich verprügeln würde. Da hatte mein Angreifer keine Lust mehr auf eine Auseinandersetzung. Ich habe solche Situationen aber nie gesucht.

Du hast nicht aus Gründen der Selbstverteidigung angefangen, sondern?

Zum einen aus Fitness bzw. sportiven Gründen. Es ist Ganzkörper-Training; das sage ich immer wieder. Mit Karate angefangen, in meiner Jugend – wie man sieht ist das schon eine Weile her – habe ich wegen meiner Kinder und mangelnder Zeit erstmal aufgehört. Wir waren aber auf Landesligaebene tätig in Mönchengladbach – und es war eine wunderbare Zeit und ein wunderbarer Sport. Ich habe dann geschaut, wo ich mit Kampfsport weitermachen kann.

Welche Kampfsportarten hast Du betrieben?

Neben Krav Maga war das Wing Tsung, das war Jeet Kune Do (Anm. d. Red.: Von Bruce Lee entwickelte Verteidigungsform), ich habe auch Kali mal gemacht und Shotokan-Karate. Der Stil ist stark auf Sport ausgerichtet. Es gibt dort Wettkämpfe, die man problemlos ohne Verletzungen durchführen kann. Du wirst trainiert, ein Ziel zentimetergenau zu treffen – ohne es zu treffen, beispielsweise im Gesicht. Man darf also nicht verletzen, sonst wird man gar disqualifiziert. Man kämpft später so, wie man trainiert.

Was unterscheidet Krav Maga von anderen Kampfstilen?

Bei einem tatsächlichen Angriff bist Du in einer Situation, wo der andere, ich sage es mal … „darauf scheißt“. Die Straße ist nicht fair. Kein Schiedsrichter, der stoppt, sobald jemand am Boden liegt. Stattdessen ist es sogar wahrscheinlich, dass der Angreifer, wenn er unterlegen ist, zu einem Equalizer wie Messer oder Stock greift, um einen Vorteil zu bekommen. Da knüpft Krav Maga an und geht davon aus, dass der andere stärker ist.

Wie?

Also arbeiten wir auch nicht fair. Es ist für die Straße gemacht. Deswegen gibt es auch keine Wettkämpfe im Krav Maga. Denn nach Straßenkampf gibt es keine Regeln oder es gäbe gewaltige Verletzungen. Aber es haben sich auch da mittlerweile verschiedene Bereiche gebildet.

Welche sind das?

Der private Bereich, der Sicherheitsdienstbereich und der militärische Bereich.

Inwieweit unterscheidet sich das Training?

Als Privatperson hast du beispielsweise nicht die Berechtigung, eine andere Person festzuhalten. Zweite Geschichte: Du willst das auch gar nicht. Wenn dich jemand angreift: Schnell raus aus der Situation. Im Sicherheitsbereich, wie als Security in einer Bar, musst du die Person eventuell schnell rausführen. Im militärischen Bereich gibt es Verteidigungen gegen Maschinengewehre, Anschleichen und schnell kampfunfähig machen. Hier aber unterrichten wir auf dem reinen Selbstverteidigungslevel.

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Absolute Präzisionsarbeit

Wie kann man sich das Training im Zivilbereich vorstellen?

Wir fangen an, die Techniken langsam und immer wieder zu üben. Bei einer gewissen Sauberkeit in der Technik kann man immer fester zugreifen, wie es auch in einer realistischen Kampfsituation der Fall wäre. Wir trainieren verschiedene Eskalationsstufen, zum Beispiel schließt man die Augen und irgendjemand greift an. Erst dann öffnest du die Augen und darfst dich verteidigen. Dann arbeiten wir so, dass es auf eine Stresssituation vorbereitet: Du powerst dich am Trittschild aus und wirst zwischendurch von jemandem angegriffen.

Das klingt tatsächlich realistisch.

Genau. Man weiß nicht, wann jemand angreift oder wie. Das wird dann entsprechend gesteigert, sodass man irgendwann das Gefühl hat, die Technik zu können. Diese verschiedenen Stufen sorgen dafür, dass man sich auch innerlich bereit machen kann, auf einen Ernstfall zu reagieren. Das muss x-mal geübt werden, um im Bewegungsgedächtnis zu bleiben.

Wie lange braucht man etwa, um einigermaßen firm zu sein?

Das ist personenabhängig. Ob man Sachen gut übernehmen kann oder ob man Bewegungslegastheniker ist.

Kann man sagen, ab wann sich jemand durchschnittlich einigermaßen verteidigen kann?

Bei uns im Betriebssport haben wir montags und freitags das sogenannte ‚Anfängertraining‘. Das ist deshalb aufgeführt, weil wir mit dem Hochschulsport zusammenarbeiten. Das wird irgendwann freigeschaltet und die, die die sich anmelden wollten, um weiterzumachen, kamen nicht rein. Deswegen gibt es jetzt auch einen Anfängerkurs. Dort fangen wir mit Grundbegriffen an. Wie mache ich überhaupt eine Faust? Wie mache ich die Deckung?

Okay.

Das gibt es normalerweise in Krav Maga nicht. Für das generelle Training gibt es den Fortgeschrittenenkurs. Wenn man da zwei Mal die Woche zum Training kommt, gehe ich davon aus, dass du dich nach drei Monaten für einfache Sachen schon gut verteidigen kannst. Nach einem Jahr etwa gegen die meisten Sachen.

Gegen welche eher nicht?

Zur Königsdisziplin gehören Messerangriffe. Da kann es auch mal sein, dass jemand, der gut trainiert ist, gegen jemanden, der sehr gut mit einem Messer umgehen kann, kaum eine Chance hat. Statistisch gesehen. Gegen stumpfe Messerangriffe schon eher. Man kann es eben nicht planen, wie sich ein Kampf entwickelt und wer da vor dir steht. Es ist da ein bisschen wie beim Schachspielen. Welchen Zug macht der Gegner? Welchen mache ich?

Ist Krav Maga in seinen Techniken im Wandel?  

Mit der Zeit hat man zum Beispiel in der Praxis festgestellt, dass gewisse Techniken auf Messerangriffe optimiert werden müssen. Wenn der Angreifer dich mit herunterreißt, ist die eigene Verletzungsgefahr möglich. Darauf wurde bei der Verteidigung reagiert, um das auszuschließen. Es ist ein Prozess, bei dem auch immer neue und bessere Techniken hinzukommen.

Fallen dir moderne Phänomene unserer Zeit ein, was Angriffe und Verteidigungsmöglichkeiten angeht, oder kann man eine gewisse Routine entwickeln?

Eine gewisse Routine ist schon mal wichtig und richtig. Es gibt aber immer Neues: Zum Beispiel gibt es Handschuhe, die mit Sand gefüllt sind. Wenn die Faust gespannt wird, ist die Hand plötzlich hart wie ein Stein. Es gab auch schon immer wechselnde spitze Gegenstände, aber die Verteidigungen darauf bleiben im Prinzip und wirken. Bei Frauen ist ein großes Problem mittlerweile und immer noch das Thema mit den K.O.-Tropfen.

Welche Verteidigungsform schlägst du da jetzt vor?

Es gibt wohl mittlerweile genau darauf abgestellte Nagellacke. Die können solche Stoffe identifizieren. Wenn sich solch ein Lack entsprechend verfärbt, dann kann man schonmal davon ausgehen, dass dir gewisse Mitmenschen in der Umgebung nicht wohlgesonnen sind. – Und den Drink entsprechend stehen lassen.

Wem würdest du das Training der Selbstverteidigung besonders empfehlen?

Empfehlen tue ich das eigentlich jedem. Ich mache Eltern-Kind-Kurse, natürlich abgeschwächt, oder Ü-50-Kurse im Haus der Familie und biete Workshops für Vereine und Firmen an. Das ist für jeden interessant. Einer hat eine Bein-Prothese, der macht genauso mit.

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Als Privatperson hast du nicht einmal das Recht eine andere Person festzuhalten

Bei der jährlichen Aktion „Sport im Park“ waren überwiegend Frauen dort. Ist das Angebot besonders ansprechend, weil es nicht auf Kraft und Masse ankommt?

Im Normaltraining haben wir eigentlich eher sehr viele Männer. Es haben tatsächlich mehr Frauen eine Hemmschwelle, weil man dem Gegenüber nicht wehtun möchte. Daher gibt es auch spezielle Frauenkurse. Aber es werden leider überwiegend Frauen von Männern angegriffen. Und die haben oft einen ganz anderen Griff. Da ist es schon sinnvoll miteinander zu trainieren.

Gibt es auch ohne Wettkampf eine Art Austausch in der Branche?

Da der Begriff ‚Krav Maga‘ nicht geschützt ist oder war, haben sich eine Vielzahl an Verbänden, auch welche, die damit ordentlich Geld machen wollen, gebildet. Wir sind im Deutschen Krav Maga Verband. Da sind wir wahrscheinlich sogar der einzige Betriebssport überhaupt, der da Mitglied ist.

Hast du von Leuten gehört, die du trainiert hast, dass ihnen Krav Maga bei einem Angriff geholfen hat, oder kann man sagen, dass es auch schon zur Prävention reicht?

Es hilft in jedem Fall auch schon im Vorhinein. Ich habe bis jetzt von einem Fall gehört, von einem meiner Schüler, der von zwei Leuten überfallen worden ist und sich erstmal ganz instinktiv verteidigen konnte. Von dem einen hat er instinktiv einen Schlag abgewehrt und ihn zu Boden bringen können. Der Zweite guckte wohl ganz seltsam und ist dann weggerannt. Da war die Situation schnell erledigt. Das hat mich gefreut (lacht), denn Selbstvertrauen schadet ja nicht. Wer das ausstrahlt, wird auch weniger angegriffen.

Danke für das Interview, Willi.

Willi Hollendung
Er ist eigentlich Softwareentwickler. Nach zahlreichen Kampfsportarten trainiert er seit zwölf Jahren Krav Maga in der Betriebssportsparte „Selbstverteidigung“ bei Atruvia in Münster. Die zweite Leidenschaft und Kursangebote von Willi sind Brettspiele. 



www.willis-sport-fun.de


Autorin Chiara Kucharski / Illustration Thorsten Kambach / Fotos Armin Zedler

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