Thomas Heidges spricht mit den Geschäftsführern der Stadtwerke Münster Sebastian Jurczyk und Frank Gäfgen über Krisenmanagement und Zukunftsperspektiven
VON KRISEN ZU CHANCEN
Die vergangenen Jahre waren für viele kommunale Versorgungsunternehmen eine enorme Herausforderung. Erst kam Corona, dann der Ukraine-Krieg, der in einer Energiekrise mündete. Nicht wenige Versorger gerieten darüber in eine Schieflage. Nicht so die Stadtwerke Münster. Wir sprachen mit den Geschäftsführern der Stadtwerke Münster, Sebastian Jurczyk und Frank Gäfgen, darüber, wie man in Münster die Krisen bewältigt hat und wie der Status quo bei den großen Zukunftsthemen Wärme- und Mobilitätswende ist.
Herr Jurczyk, Herr Gäfgen, wenn Sie aus heutiger Sicht noch einmal zurückblicken – was waren die wichtigsten Entscheidungen, die Sie im Zuge der Corona- und Energiekrise zu treffen hatten?
Sebastian Jurczyk: Wir haben allein während der Energiekrise über 100 Entscheidungen getroffen. Eine besonders zentrale betraf die Gasmenge, die wir einkaufen sollten. Es wusste ja niemand, wieviel die Menschen weniger verbrauchen würden, nachdem Wirtschaftsminister Robert Habeck dazu aufgerufen hatte, weniger zu duschen. Wenn wir hier falsch gelegen hätten, wäre das richtig teuer geworden. Die wichtigste Entscheidung war aber, den abteilungsübergreifenden Krisenstab schnell einzurichten – bereits einen Tag nach Beginn des Krieges. Darüber hinaus sind wir immer auf Sicht gefahren. Budgets wurden erst ausgegeben, wenn wir genau wussten, wie wir wirklich dastehen. So vorsichtig zu agieren, war im Nachhinein eine gute Entscheidung.
Frank Gäfgen: Eine kritische Entscheidung, die wir in Bezug auf den ÖPNV treffen mussten, war die Einschränkung unseres Leistungsangebotes. Der Hintergrund hierfür war, dass 2020 coronabedingt keinerlei Fahrschulkurse stattfinden konnten – weder für Pkw noch für Busse, was für uns fatal war. Erst 2021 fing das langsam wieder an. 2022 wurde dann von uns der Leistungsstand von vor der Pandemie abverlangt. Uns ging es aber wie vielen anderen Branchen: Die Menschen hatten sich zwischenzeitlich beruflich umorientiert. Wir setzen derzeit alles daran, diese Personallücke wieder zu schließen.
Welche Themen haben Sie auf dem Höhepunkt der Krise besonders beschäftigt?
Sebastian Jurczyk: Über allem stand das Thema der Liquidität: Was passiert, wenn Kundinnen und Kunden nicht mehr zahlungsfähig sind? Wie erhalten wir unsere Zahlungsfähigkeit, um die hohen Einkaufspreise an der Börse zahlen zu können? Darüber hinaus hat uns die Umsetzung der politischen Themen beschäftigt: die Gasumlage, der geschenkte Dezember-Abschlag, die Preisbremsen. Lange Zeit war unklar, ob überhaupt ausreichend Gas am Markt erhältlich ist. Wie können wir es schaffen, unseren Kundinnen und Kunden dauerhaft bezahlbare Preise zu bieten. Im Winter mussten wir uns die Frage stellen, ob die Versorgungssicherheit zu jeder Zeit gewährleistet ist. Zwar waren wir immer relativ optimistisch, aber hundertprozentig klar war das nicht. Diese Risiken waren essenziell und hätten im schlechtesten Fall das Stadtwerk lahmlegen können.
Frank Gäfgen: Wir mussten uns in unglaublicher Schlagzahl auf gesetzliche Änderungen und Regularien einstellen. Teilweise hatten wir kaum Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken. Ein Beispiel aus meinem Bereich: Wir wachen morgens auf und haben ein 9-Euro-Ticket, das bundesweit im Nahverkehr Gültigkeit hat. Der Bund hat sich durch diese Maßnahme eine Kompetenz angeeignet, die er faktisch nie hatte. Uns wurde ein Tarifprodukt mit festgelegtem Preis, Gültigkeitsbereich und definiertem Zeitraum der Einführung vorgeschrieben. Wir sollten das im Rahmen der Regularien und Spielregeln umsetzen, die wir bis dahin gewohnt waren. Das passte nicht zusammen. Davon ist das letzte Jahr stark geprägt worden und die Folgen sehen wir heute noch.
Wenn man schwierige Situationen gemeistert hat, zieht man daraus meist auch positive Erkenntnisse. Sie auch?
Sebastian Jurczyk: Ja, wir auch. Eine Krise ist immer eine Art Brennglas für eine Organisation oder ein System. Sie legt offen, wo Verbesserungspotenziale zu finden sind. Wir haben zum Beispiel nach der Energiekrise unsere Einkaufs- und Beschaffungsstrategie für Strom und Gas angepasst. Positiv mitgenommen habe ich, dass wir als Stadtwerke selbst Multikrisen bewältigen können. Zwei Jahre Corona plus Energiekrise: Viel mehr kann eigentlich nicht passieren. Und selbst wenn: Wir haben ein Team, mit dem wir alles schaffen können.
Die hohen Energiepreise stellen für Privathaushalte und Unternehmen eine enorme Belastung dar. Wie schätzen Sie hier die
weitere Preisentwicklung ein – worauf werden wir uns einstellen müssen?
Sebastian Jurczyk: Die Preiskrise ist leider noch nicht ausgestanden. Die schwindelerregend hohen Preise aus dem Sommer 2022 sind zwar zwischenzeitlich wieder gesunken, aber stabil ist die Entwicklung nicht. Der Markt reagiert nach wie vor sehr nervös und zeigt extreme Ausschläge in beide Richtungen. Verbraucherinnen und Verbraucher werden sich grundsätzlich auf ein höheres Energiepreisniveau einstellen müssen. Insbesondere fossile Energie aus Kohle, Öl und Gas wird aufgrund des europaweiten CO2-Preises spürbar teurer werden. Auch aus diesem Grund haben wir mit „Münster:Sonnenschein“ ein Photovoltaik-Pachtmodell eingeführt, das es Menschen ermöglicht ihren Grundbedarf mit eigenem Ökostrom zu decken. Auch mit solchen Schritten bringen wir die Energiewende voran.
Welche Möglichkeiten haben Sie, Menschen, die unter den hohen Energiepreisen leiden, zu unterstützen?
Sebastian Jurczyk: Wir haben unsere Kundinnen und Kunden im vergangenen Jahr vor den extremen Preissteigerungen geschützt, indem wir konservativ und ohne Risiko beschafft haben. Aktuell geben wir sinkende Marktpreise so schnell wie möglich an die Haushalte und Unternehmen weiter. Darüber hinaus haben wir ein ganz tolles, sehr engagiertes Team, das bei Zahlungsschwierigkeiten gemeinsam mit den Betroffenen wirklich intensiv nach Lösungen sucht. Je früher Betroffene Kontakt zu uns aufnehmen, desto besser.
Sebastian Jurczyk, vorsitzender der Geschäftsführung und Geschäftsführer Energie
Wo steht Münster beim Ausbau der regenerativen Energien?
Sebastian Jurczyk: Wir haben ja bereits im Jahr 2019 unsere Strategie 2030 entwickelt. Die Energiewende stand bei uns also schon verhältnismäßig früh fest. Durch die Energiekrise wurden viele Prozesse beschleunigt. Bis 2030 wollen wir alle städtischen Haushalte mit grünem Strom versorgen und sind auf einem guten Weg. Aktuell haben wir über neunzehn Windenergieanlagen in der Projektpipeline. Gerade sind beispielsweise drei große Anlagen in Südlohn genehmigt worden.
Welche Rolle spielt beim Thema Windenergie das von Ihnen angestoßene OVG-Urteil?
Sebastian Jurczyk: Das war eine ganz wichtige Entscheidung. Wir planen im Kreis Lippe in einer Windvorrangzone mehrere Anlagen. Der Kreis hatte uns den Bau untersagt, weil die Luftaufsichtsbehörde aufgrund eines Sicherheitskorridors für Hubschrauberflüge der Bundeswehr beim Genehmigungsverfahren Einwände erhoben hatte. Unser Ziel war es, einmal gerichtlich zu klären, wie sich die Interessen von Landes- und Versorgungssicherheit vereinbaren lassen. Mit Erfolg: Das Verfahren endete in einem für uns positiven Vergleich – die Bundeswehr verlegt die Flugstrecke. Für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland war diese Entscheidung richtungsweisend. Die Botschaft ist: Windkraftanlagen haben Vorrang.
Ganz Deutschland diskutiert aktuell über das Gebäudeenergiegesetz (GEG). Wie steht es im September 2023 um die Wärmewende
in Münster?
Sebastian Jurczyk: Bei dem Thema gehören wir zu den Pionieren der Branche: Wir haben uns schon 2020 klar positioniert, dass wir die Fernwärme für Münster mit erneuerbaren Wärmequellen zum echten Heimatprodukt machen wollen. Dazu wollen wir Erdwärme nutzen, Solarthermie und Wärmespeicher einsetzen und Großwärmepumpen bauen. Die erste Großwärmepumpe nutzt Abwärme aus dem Hafenkraftwerk für die Wärmeerzeugung. Sie soll schon in der kommenden Heizperiode Wärme ins Netz speisen. Was uns gerade etwas herausfordert, ist die Frage nach dem Ausbau der Netze für die Energie- und Wärmewende und die Digitalisierung. Diesem Thema werden wir uns verstärkt widmen müssen.
Warum?
Sebastian Jurczyk: Weil wir hier sehr schnell zu der Frage kommen, wie viele Baustellen eine Stadt verträgt und was man den Bürgerinnen und Bürgern zumuten kann. Eins ist aber klar: Die Netze müssen ausgebaut werden, wenn wir es ernst meinen mit dem Klimaschutz.
Gibt es spezielle Leuchtturmprojekte, die im Hinblick auf die Wärme- und Mobilitätswende von besonderer Bedeutung sind?
Frank Gäfgen: Im Bereich Mobilität hat die Antriebswende absolute Priorität – also die Umstellung auf Elektromobilität. Für die Jahre 2024 und 2025 werden wir weitere 24 Elektrobusse bekommen. Damit haben wir unsere eigene Fahrzeugflotte fast vollständig auf elektrische Antriebe umgestellt. Gleichzeitig bauen wir die Ladesäulen im Liniennetz und den Betriebshof aus. Mit dem Südbad entsteht gerade ein sehr nachhaltiges Schwimmbad, das wir dank Fernwärme, Photovoltaikanlage und Wärmerückgewinnung besonders effizient betreiben und in diesem Jahr an die Stadt übergeben werden. Und: Im Zuge des Umbaus des Preußenstadions planen wir ein sehr innovatives Wärme- und Versorgungskonzept.
Frank Gäfgen, Geschäftsführer Mobilität
Sebastian Jurczyk: In meinem Bereich ist ein wichtiges Projekt die Tiefengeothermie. Wir wollen heißes Wasser aus tiefen Erdschichten fördern, mit dem wir emissionsfrei Fernwärme gewinnen können. Ein bedeutendes Zukunftsprojekt für die Wärmewende in Münster – genau wie die zwei großen Wärmepumpen, die gerade im Hafen entstehen.
Gibt es in Bezug auf innovative Zukunftsprojekte Städte, bei Münster sich etwas abschauen könnte oder sollte?
Sebastian Jurczyk: Gerade, was die Nutzung von Geothermie angeht, machen die Stadtwerke München einen guten Job. Sie nutzen die Geothermie als festen Bestandteil der Fernwärme – mit hoher Akzeptanz von Seiten der Bevölkerung.
Frank Gäfgen: Beim Thema Mobilität finde ich die Verkehrswende in Paris sehr vorbildhaft – mit der Umwidmung von Fahrzeugspuren für umweltfreundliche Verkehrsträger als einem zentralen Element der künftigen Verkehrsplanung.
Bleiben wir mal beim Thema ÖPNV. Welchen Einfluss hatten die vom Bund beschlossenen Maßnahmen 9-Euro-Ticket bzw. 49-Euro-Ticket auf den ÖPNV in Münster?
Frank Gäfgen: Das 9-Euro-Ticket war 2022 der Probelauf für eine echte Revolution in der Tariflandschaft. Damals stiegen die Fahrgastzahlen um rund zehn Prozent. Das war ein Erfolg, an den wir jetzt mit dem Deutschlandticket und dem neuen, vergünstigten MünsterAbo anknüpfen wollen. Das Deutschlandticket finanziert erstmals auch der Bund mit. Das ist ein Einstieg in eine neue Art der Finanzierung des ÖPNV, für die wir uns schon lange eingesetzt haben.
Mit welchen konkreten Projekten wollen Sie die Verkehrswende in Münster weiter vorantreiben?
Frank Gäfgen: Die Netzarchitektur der Buslinien wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Ziel ist es, stärker hierarchisch zu werden – mit starken Hauptachsen, Ergänzungslinien sowie On-Demand-Systemen und ergänzenden Mobilitätsangeboten. Auch den Ausbau und die Elektrifizierung von Stadtteilauto werden wir weiter forcieren, da dies eine Möglichkeit ist, den Pkw-Verkehr zu reduzieren. Ein für uns neues Thema ist die Parkraumbewirtschaftung. Die offene Frage lautet hier: Wie können wir mit dem Parkhausbetrieb etwas für die Mobilitätswende tun? Auch hier gibt es interessante Lösungsansätze, an denen wir mit einem kleinen, schlagkräftigen Team arbeiten.
Herr Jurczyk, Herr Gäfgen – vielen Dank für das Gespräch.
Sebastian Jurczyk und Frank Gäfgen sind seit Herbst 2019 Geschäftsführer der Stadtwerke Münster GmbH. Die Stadtwerke beschäftigen 1300 Mitarbeiter und sind in den Bereichen Energie- und Wasserversorgung, Mobilität und Telekommunikation tätig ist. Sebastian Jurczyk übernimmt als Vorsitzender der Geschäftsführung das Ressort Energie, Frank Gäfgen verantwortet den Bereich Mobilität.
llustration Thorsten Kambach / Fotos Sebastian Jurczyk und Frank Gäfgen