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2022-11-07 Stadtgeflüster Illustration Ekki kurz.tif

Chiara Kucharski spricht mit der Geschäftsführerin der BAG W, Sabine Bösing

WOHNEN IST MENSCHENRECHT

Seit dem Frühjahr liegt der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit auf Bundesebene vor. Bis 2030 soll diese in Deutschland überwunden werden. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (kurz: BAG W) sind hierzulande über 600000 Menschen wohnungslos, davon leben schätzungsweise 50000 Menschen ohne Obdach auf der Straße. Entgegen vieler Vorurteile gibt es zig Gründe, die dahin führen können. Seien es Scheidung, Jobverlust, Krankheit oder verspätete Zahlungen von unterstützendem Wohngeld. Gleichwohl gibt es zu wenig Wohnraum, zu teure Mieten und zu wenige Genehmigungen für neuen Wohnungsbau, um das Ganze zu entschärfen. Chiara Kucharski spricht mit der Geschäftsführerin der BAG W, Sabine Bösing, über die menschenunwürdige Situation, die mittlerweile in fast jeder Stadt und jedem Städtchen zum Straßenbild gehört. Ein Plan steht nun, doch wie sind die Aussichten?

Seit dem 1. Januar 2024 sind Sie Geschäftsführerin der BAG W. Was steht nun an?


Zentral begleiten wir kritisch die politischen Prozesse. Wenn es etwa zu Reformen beim Bürgergeld kommt oder wenn das Gesundheitsstärkungsgesetz verhandelt wird, dann ist es unsere Aufgabe, die Forderungen der BAG W einzubringen und zu verhandeln. Stark involviert sind wir bei der Ausgestaltung des Nationalen Aktionsplans zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030. Hierzu bereiten wir für den 11. September, zum Tag der wohnungslosen Menschen, ein parlamentarisches Frühstück im Bundestag vor. Ziel ist es, viele Abgeordnete zu gewinnen, sich für die Themen der Wohnungsnotfallhilfe zu interessieren und zu engagieren. 


Wie soll das geschehen? 


Unter dem Motto „Wohnung los – Gemeinsam mehr erreichen“ wollen wir den Tag der wohnungslosen Menschen nutzen, die Bündnisarbeit in den Fokus zu rücken. Wir wollen Anregungen geben, um in den Regionen, den Kommunen oder auf Länderebene den Forderungskatalog zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit entsprechend voranzubringen. Speziell in Berlin versuchen wir, die Breite der Themen und der Akteure, mit denen wir zusammenarbeiten, darzustellen und das soll auch Inhalt des parlamentarischen Frühstücks sein.


Was hat sich durch den Nationalen Aktionsplan (NAP) geändert?


Durch den Nationalen Aktionsplan selbst hat sich noch nicht spürbar etwas verbessert. Jetzt müssen diese Leitlinien entsprechend mit konkreten Maßnahmen unterlegt werden. Auch mit einer konkreten Zeitschiene, bis wann etwas umgesetzt wird. Der Aktionsplan baut auf drei Säulen auf: „Wohnraumversorgung“, „Prävention“ und „Hilfen, Hilfesysteme und Notversorgung“.


Was beinhalten diese?


Hinsichtlich der Prävention fordern wir den verstärkten Ausbau von Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten. Damit, wenn jemand in eine Situation gerät, in der er oder sie nicht in der Lage ist, die Miete zu zahlen, nicht sofort aus der Wohnung fliegt, sondern dass möglichst früh eine Unterstützung erfolgt. Denn jede Wohnung, die nicht verloren ist, ist eine gewonnene Wohnung und ist eine Verhinderung von Wohnungsverlust. 


Welche Formen der Unterstützung sind möglich? 


Die zentralen Fachstellen haben die Möglichkeit, Mietschulden zu übernehmen, also schnell Unterstützung zu leisten. Oft haben sie einen aufsuchenden Charakter. Sie gehen zu den Menschen hin, die sich gerade nicht in der Lage sehen, sich selbst Hilfe zu suchen. 


Haben Sie ein Beispiel? 


Wenn es zu einer Räumungsklage kommt, braucht es schnelle Hilfe. Daher müssen Informationen über eine bevorstehende Räumungsklage schnell an entsprechende Stellen übermittelt werden, damit sie frühzeitig intervenieren können. Wenn erst jemand kommt, wenn die Räumung für den nächsten Tag angekündigt ist, dann wird es schwierig. Kommt es doch so weit, wird geschaut, was mit den Menschen passiert und wo sie unterkommen können. Den Ausbau dieser Fachstellen halten wir für eine sehr wichtige Maßnahme. Doch es gibt noch weitere Themen, die eine Rolle spielen. 


An welche Themen denken Sie? 


Mietenpolitische Themen, wie Schonfristzahlung oder Datenschutz. Wie können die Daten schnellstmöglich an die Stelle kommen, die auch unterstützen kann? Wie kann das datenschutzkonform passieren? Die nächste Säule ist die Wohnraumversorgung. Es wird nach Lösungen geschaut, dass mehr Wohnungen und bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung stehen. Das muss sozial gebundener Wohnraum sein, weil nur dann eine bezahlbare Miete gesichert ist. Schon lange werden mehr Wohnraum und Wohnungsbau gefordert. Doch die Baugenehmigungen gehen sogar zurück. Es gibt schon einiges an Förderprogrammen, aber die reichen nicht aus. Hier braucht es vor allem eine langfristige Förderung. Es gibt das Bündnis „Bezahlbares Wohnen“, das auch vom Ministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen eingerichtet worden ist. Zentrale Aufgabe dieses Bündnisses ist, Wege zu finden, mehr bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. 


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Das Totschlagargument ist „Geld ist nicht verfügbar“

Was macht dieses Bündnis? 


Es werden einerseits Maßnahmen erarbeitet, die dafür sorgen, dass der Wohnungsbau angekurbelt wird. Andererseits wird nach Bestandsmöglichkeiten gesucht. Wir müssen beide Wege gehen: Es geht nicht nur darum, mehr und mehr zu bauen, sondern wir müssen auch gucken, was wir im Bestand haben. Gerade letzte Woche war ich in Karlsruhe und habe mir ein ehemaliges Krankenhaus angeschaut, durch dessen Umbau man hundert sozialgebundene Apartments mit Balkon hat gewinnen können. 


Ihr Motto lautet „Wohnen ist Menschenrecht“. Der würdige Umgang mit schwierigen Lebenslagen funktioniert in skandinavischen Ländern zum Teil vorbildlich: Jeder Mensch bekommt eine Unterkunft und wird dabei betreut. Was läuft anders als hier? 


Man muss Frau Ministerin Geywitz zugutehalten, dass sie sich daran sehr orientiert. Ich weiß nicht, wie viele von den Politikern schon in Finnland waren und sich das wirklich gute Modell, das funktioniert, anschauen, um es in Deutschland auch mit initiieren zu können.


Aber? 


Wir haben in Deutschland schon ein sehr ausdifferenziertes Hilfesystem. Auch haben wir etwas, das in anderen europäischen Ländern so nicht existiert, und zwar ein Recht auf Hilfe. Das heißt, jeder Mensch, der in einer besonderen Lebenslage mit sozialen Schwierigkeiten ist, kann Unterstützung erhalten. Ich denke, dieses Hilfesystem und dieser Rechtsanspruch, gepaart mit einem politischen Willen, Wohnungs- und Obdachlosigkeit tatsächlich zu überwinden, ist eine gute Grundlage dem großen Ziel näherzukommen.


Und Finnland?


In Finnland hatten sie zuvor nicht so ein Hilfesystem. Die Obdachlosenunterkünfte waren die letzten Baracken, das hatte nichts mit Würde zu tun. Sie haben begonnen, Geld in die Hand zu nehmen und das ist ein wichtiger Faktor. 


Ja. 


Sie haben die Unterkünfte in Apartments umgewandelt, haben den Menschen Mietverträge gegeben, sodass sie abgesichert sind. Ganz arg wichtig ist, dass das Thema auf der politischen Agenda ist. Es muss langfristig und strukturell verankert werden. Das hat Finnland sehr gut hinbekommen und ich denke, wir haben in Deutschland gute Voraussetzungen, das auch umsetzen zu können, wenn wir entsprechend Unterstützung aus der Politik erhalten.


Stichwort: „Geld-in-die-Hand-nehmen“?


Geld sei nicht verfügbar, ist das Totschlagargument. Wenn wir die Haushaltslage im Bund betrachten, dann kann man sich denken, wie viele Maßnahmen schon mal nicht sofort umgesetzt werden können. Doch auch mit Maßnahmen, die erstmal etwas kosten, wird im Endeffekt Geld gespart. Eine Kommune spart letztendlich Geld, wenn sie die Menschen nicht unterbringen muss, sondern wenn sie in ihrem Wohnraum verbleiben können.


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Jeder Mensch mit sozialen Schwierigkeiten kann auf Unterstützung bauen

Inwiefern können Sie den Ministerien auf die Finger klopfen? 


Wir versuchen, uns immer kritisch einzubringen. Unsere Aufgabe ist es, den NAP mitzugestalten und auf die Umsetzung konkreter Maßnahmen zu drängen. Wenn notwendig, auch unbequeme Fragen zu stellen. Mit der jahrzehntelangen Expertise ist die BAG W eine wichtige Gesprächspartnerin für die Politik, die angefragt und gehört wird. In unseren Fachausschüssen werden die Erfahrungen der Dienste und Einrichtungen vor Ort und der Menschen in Wohnungslosigkeit gebündelt, analysiert und zu konkreten Forderungen ausgestaltet. Wir sehen, was notwendig ist, damit es zu einer Verbesserung kommt. 


Wo gibt es Handlungsbedarf? 


Es gibt auf vielen Ebenen Handlungsbedarf. Das Problem ist unsere föderale Struktur, die es dem Bund auch schwierig macht, bis zu den Kommunen durchzugreifen. Da sehen wir, dass die angesprochene Rechtsgrundlage nicht von allen Kommunen rechtskonform umgesetzt wird, und das prangern wir an. Bei der Rechtsdurchsetzung der Hilfen nach § 67 ff. SGB XII zum Beispiel liegt das Problem bei den Kommunen. Das heißt, nicht jede Kommune gewährt die Hilfen, obwohl jeder Mensch einen Anspruch hat.


Gibt es konkrete Sanktionen, wenn sie nicht umgesetzt werden?


Die gibt es nur, wenn jemand klagt. Da ist das Problem. Wenn eine Kommune sagt: „Wir haben keinen Platz.“, oder „Wir schätzen das als freiwillige Obdachlosigkeit ein“, dann muss ich klagen. Doch ein Mensch in einer Notsituation oder einer Krise hat natürlich nicht unbedingt die Kraft zum Klagen. 


Verständlich.


Es gibt zwar Rechtsanwälte, die unterstützen, aber wenn so ein Klageweg mal beschritten wird, ist es häufig schwierig bis zum Ende durchzuhalten. Bei entsprechenden Urteilen sind die Kommunen schon veranlasst, etwas zu tun. Aber das geht eben nur über den Rechtsweg. 


Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass der NAP bis 2030 umgesetzt sein soll?


Es braucht alle föderalen Ebenen und wir brauchen alle Ministerien, die letztendlich Verantwortung tragen. Angefangen vom Gesundheitsministerium über das Familienministerium und das Justizministerium. So steht es auch im Nationalen Aktionsplan. Es muss immer wieder betont werden, wer für welches Thema die Verantwortung trägt, und diejenigen müssen zum Handeln aufgefordert werden. 

Wenn wir im Moment die Entwicklungen politisch sehen, dann wissen wir nicht, wo wir hinsteuern. Da können wir uns selbst nur immer wieder intensiv einbringen und möglichst viel erreichen bis 2030.  


Sie sind guter Dinge? 


Etwa zwölf Jahre hat die BAG W Lobbyarbeit für eine nationale Strategie gemacht. Jetzt haben wir 2024 und sie wird umgesetzt. Manches dauert sehr lange, aber es lohnt sich, dranzubleiben. Wir sind im Moment an einem Punkt, wo vieles droht, wieder zu kippen – das müssen wir verhindern – und jede vorhandene Chance, uns für eine Verbesserung der Situation von Menschen in Wohnungsnot einzusetzen, nutzen. 

Wir wissen nicht, was kommt, wenn nächstes Jahr im September gewählt wird. Deswegen ist es jetzt wichtig, Allianzen zu schmieden und im Sinne der Menschen zu handeln.


Sabine Bösing ist seit Januar 2024 Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. und Fachreferentin im Bereich „Gesundheit und Familien“. Ursprünglich begann sie als Streetworkerin und war viele Jahre in der Suchthilfe tätig. Seit 2018 arbeitet sie bei der Bundesarbeitsgemeinschaft in Berlin, wo sie stellvertretende Geschäftsführung war, bis sie in ihr jetziges Amt gewählt wurde.

www.bagw.de

lllustration Thorsten Kambach / Fotos Sabine Bösing

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