Merle Radtke und Uwe Köhler erklären Stephan Günther die Flurstücke
WENN GANZ MÜNSTER EINE EINZIGE GROßE BÜHNE WIRD
Seit 2011 wird Münster alle vier Jahre zum Schauplatz eines ganz besonderen Festivals, den Flurstücken. Alles Begann mehr oder weniger aus dem „Theater Titanick“ heraus, als sich vier Münsteraner Institutionen zusammenschlossen und die Flurstücke erfanden, die Filmwerkstatt Münster, die Kunsthalle Münster, das Theater im Pumpenhaus und natürlich das Theater Titanick. Bei Merle und Uwe von den den Veranstaltern haben wir einmal genauer nachgefragt, was dieses Festival eigentlich genau ist, was alles dahintersteckt und vor allem, was die Besucher alles erwartet!
Was genau sind eigentliche die Flurstücke?
Ein internationales Festival, welches größtenteils im öffentlichen Raum stattfindet, komplett kostenfrei ist und zu dem sich wirklich jeder eingeladen fühlen kann, daran teilzunehmen. Da es sich in der Stadt abspielt, kann man aber auch einfach „reinstolpern“, auch wenn man es gar nicht geplant hatte. Das Festival rückt teilweise bekannte Plätze in neues Licht, erzählt Geschichten an Orten, die man vielleicht noch nicht kennt und so entdeckt. Es schafft auch neue Perspektiven.
Klingt gut, erklärt es aber noch nicht ganz. Wie beschreibe ich einem Touristen/einer Touristin, was die Flurstücke sind?
Simpel ausgedrückt sind es erst einmal ganz viele Kulturereignisse im öffentlichen Raum. Also eine Ansammlung von vielen Veranstaltungen. Sehr diverse Veranstaltungen, die von vier Kurator*innen ausgewählt wurden. Das Festival versammelt verschiedenste Projekte aus den Bereichen Tanz, Performance und bildender Kunst und bietet somit eine ganze Palette von Kunstgattungen und Kunstereignissen, die präsentiert werden.
Und an wen richten sich die Flurstücke? Gibt es eine bestimmte Zielgruppe?
An wen es sich richtet? Darüber haben wir letztens erst gesprochen. Bei Gesellschaftsspielen steht auf der Verpackung ja oft „von 0 bis 99 Jahren“. Wir waren dann der Meinung, dass genau das auch auf die Flurstücke zutrifft. Es ist unser Anspruch, dass wir aufgrund dieser Vielfältigkeit des Festivals eine Vielzahl an Besucher*innen und jeden Geschmack ansprechen. Das ist uns, glaube ich, auch gelungen und die meisten Projekte richten sich sowohl an groß und klein, haben leise und auch laute Töne. Wir wollen für ganz unterschiedliche Personen im öffentlichen Raum Geschichten erzählen, egal welchen Alters, welcher sozialen Schicht, oder welcher Kultur. Es sollen Leute zusammengebracht werden, die mit hunderten, oder gar tausenden zusammen Kultur erleben. Letztendlich hat diese eine identitätsstiftende Wirkung für unsere Gesellschaft.
Ich oute mich mal als Kunstbanause! Muss man Vorwissen oder ein besonderes Kunstverständnis mitbringen, um dort Spaß zu haben?
Man darf da ruhig viel großzügiger mit sich selbst sein und etwas auch mal nicht verstehen. Ein Aushalten von „ich verstehe gerade nicht alles, aber irgendwas gefällt mir daran, oder triggert mich!“, darf und sollte man auch aushalten. Aber klar, der Drang, Dinge verstehen zu wollen, ist natürlich nachvollziehbar. Man möchte Sachen ja auch einordnen und Sicherheit haben. Bei den Einladungen der Künstler*innen achten wir natürlich darauf, wie und ob ihre Werke auch ohne großes Vorwissen funktionieren. Gerade im öffentlichen Raum, wo man auch mal unvorbereitet auf Stücke trifft, ist das besonders wichtig und somit eine Qualität der Flurstücke.
Ok, das beruhigt mich ja schon etwas…
Wir haben ja noch mehr. Zum Festival, den einzelnen Gruppen, Auftritten und Stücken bekommen die Menschen zudem noch ein wenig was an die Hand. Wir werden eine Zeitung mit weiterführenden Informationen produzieren. Vertiefende Informationen gibt es natürlich auch noch im Festivalzentrum und auf der Website. Wenn man sich also ein bisschen lost fühlt, gibt es da also noch was.
Jetzt habt ihr mich!
Ja und wenn du dann Lust bekommst, noch ein wenig weiter einzutauchen und mehr zu verstehen, gibt es noch weitere Angebote. Es wird Backstage-Führungen sowie Gespräche mit den Künstler*innen geben. Du siehst, es ist an alle gedacht.
Man darf da ruhig mal großzügig mit sich selber sein
Also sind die Flurstücke großes künstlerisches Tamtam für jedermann im öffentlichen Raum?
Aber nicht nur TamTam! Es gibt auch Projekte, die wenig damit zu tun haben. Leises Tamtam vielleicht, und auch nicht zwingend im öffentlichen Raum, sondern auch an Orten, die vielleicht anders öffentlich gemacht werden. Bei den letzten Flurstücken 2019, war es zum Beispiel das Preußenstadion, welches kostenlos betreten werden konnte und durch uns „bespielt“ wurde. Die Liebe zu Berg Fidel ist irgendwie geblieben. In diesem Jahr gehen wir mit dem Projekt „spin jump crawl climb dream bite hunt von Paul Spengemann in die Sporthalle Berg Fidel. Zwar ein städtisches Gebäude, aber die Veranstaltungen dort befinden sich ja in der Regel hinter eine „Paywall“, Volleyball oder Basketball zum Beispiel, das kann sich auch nicht jeder leisten. Wenn man nicht zufällig Schulunterricht da hat, kommt man dort also nicht einfach so rein.
Stimmt, auch ins Stadion kommt man nicht, wenn man nicht zufällig Bundesjugendspiele da hatte früher…
Genau! Das sind eben Orte, die auch Leute, die diese Orte bereits kennen, in neuem Kontext völlig neu entdecken. Diese Orte haben eine Großzügigkeit und auch eine Ruhe, die man an Wochenenden auf dem Prinzipalmarkt zum Beispiel eher nicht findet.
Und was findet in der Sporthalle nun statt?
Achso, ja, es ist eine Lasershow. Das klingt jetzt natürlich wieder nach sehr viel Tamtam, wird aber sehr poetisch.
Das stelle ich mir spannend vor…
Aber das ist nur eine der Produktionen, die nicht im öffentlichen Raum stattfinden.
Was gibt es denn sonst noch?
Da ist zum Beispiel der „Dekolonialwarenladen“ von Stefan Demming in der Stadthausgalerie, der an allen Tagen der Flurstücke ein Anlaufpunkt sein wird. Dann gibt es noch die Videoinstallation „No More Butter Scenes“ von Silke Schönfeld im Kreativ Haus, die ebenfalls an allen Tagen geöffnet ist.
Ich dachte ja, die Flurstücke konzentrieren sich auf den Innenstadtbereich?
Ne, die Leute müssen nicht nur zu uns kommen, wir kommen auch zu den Leuten. Die Produktion „Wild“ von Motionhouse aus Großbritannien wird an gleich drei Orten aufgeführt. Da wird ein Stangenwald aufgebaut, eine sehr tänzerisch und akrobatische Sache. Im Grunde ist das Thema Wildheit im urbaneren Bereich, das wilde Leben. Die Aufführungen finden, über die Festivaltage verteilt im Rathausinnenhof, an den Aaseeterrassen und am Hamannplatz in Coerde statt. In Coerde arbeiten wir speziell mit dem Jugendzentrum HOT, dem DRK Jugendtreff und mit den Kirchengemeinden zusammen. Somit erfahren auch die Personen in den Stadtteilen frühzeitig von den Projekten und können sich darauf freuen.
Wieder was gelernt! Gibt es denn wieder ein besonders aufsehenerregendes Projekt?
Das Motto der Flurstücke in diesem Jahr ist ja „Berührung“, das haben wir uns auch als Thema für ein großes partizipatives Projekt genommen. Der Franzose Olivier Grossetête wird an der Stubengasse „Monumental Constructions“ präsentieren. In insgesamt 10 Workshops bereiten 250 bis 300 Erwachsene und Jugendliche in den Titanick-Hallen am Hawerkamp Kartonagen vor. Mit denen wird dann am Samstag an der Stubengasse das Elefantenhaus des alten Zoos nachgebaut. Am Sonntag sind dann alle dazu eingeladen, das Gebäude mit uns und dem Künstler. Zu dekonstruieren.
Wahnsinn!
Auch groß und aufsehenerregend wird die Inszenierung „Fous De Bassin“, von den französischen Akteuren von Ilotopie. Der Aasee an den Kugeln wird hier auf 80 x 100 Metern zur großen Bühne für eine poetische Geschichte. Das ist auch das größte Projekt der Flurstücke in diesem Jahr. Man erlebt die Geschichte eines Menschen, der mit einem Fiat 500 übers Wasser fährt, als der Fiat plötzlich explodiert. Während er nach Hilfe sucht, schläft er ein und erlebt einen Albtraum, in dem alle möglichen alltäglichen Sachen an ihm vorbeiziehen und es immer abstruser und grotesker wird.
Das ist ja eine ganze Menge, was die Münsteraner*innen da erwartet. Wie stellt man so ein Programm zusammen? Woher kommen die Ideen?
Der Ursprung liegt ja vor der ersten Ausgabe 2011 bei Theater Titanick. Verwaltung und Politik gaben den Anstoß: „Ihr seid überall in der Welt unterwegs und seht tausend Sachen, dann bringt doch mal was zurück nach Münster!“ Dann war die Idee da, die wir dann mit Verwaltung und Politik zusammen weiterentwickelt haben. Der Wunsch war sofort, dass nicht nur Titanick alleine das macht, sondern wir uns andere Akteur*innen suchen, die sowieso auch einen weiten Horizont haben und nicht nur klein denken. Schnell war dann die Viererkonstellation aus Kunsthalle Münster, Filmwerkstatt, Theater im Pumpenhaus und Theater Titanick gefunden…
Jetzt kennen wir die Entstehungsgeschichte, aber wie organisiert und stellt man so ein Festival zusammen?
Na ja, wenn man künstlerisch arbeitet, auf vielen Festivals eingeladen ist, sieht man ja wahnsinnig viel, lernt Menschen kennen, verfolgt Werdegang und trifft sich wieder. Für die, die bei uns kuratorisch arbeiten, ist es halt viel Netzwerkarbeit, viel anschauen und viel unterwegs sein. Entscheidend sind manchmal Begegnungen und kleine Momente mit Leuten, bei denen man dann merkt, dass man mit ihnen gerne zusammenarbeiten würde. So entsteht dann nach und nach der Rahmen des Festivals. Dann kommt auch noch viel Recherche dazu, auch über Locations, wo passt was hin, oder wo kann etwas überhaupt durchgeführt werden. Bei den 100 Tonnen von Générik Vapeur 2019 haben wir uns zum Beispiel ganz bewusst entschieden, dass die durch die Stadt jagen, von der Salzstraße bis zum Prinzipalmarkt. Oder auch jetzt, ursprünglich wollten wir mit Ilotopie ans andere Ende des Aasees zwischen Aaseeterrassen und Torminbrücke, aber das ging nicht, weil da Rebhühner und Enten brüten.
Kein einfacher Job, und wir sind gespannt, was uns im Juni erwartet! Ich danke euch beiden für das interessante Gespräch!
Die Flurstücke in Münster sind ein großes, viertägiges Kulturfestival in Münster, welches vorwiegend den öffentlichen Raum für Aufführungen, Aktionen und Ausstellungen nutzt. Seit 2011 finden sie alle vier Jahre statt. Für das Programm zeichnen sich vier Münsteraner Institutionen verantwortlich: Filmwerkstatt Münster (Daniel Huhn und Winfried Bettmer), die Kunsthalle Münster (Merle Radtke), das Theater im Pumpenhaus (Till Wyler von Ballmoos) und das Theater Titanick (Clair Howells und Uwe Köhler.
In diesem Jahr finden die Flurstücke vom 27. bis zum 30. Juni statt. Alle Infos sind unter www.flurstuecke.com zu finden.
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Stephan Günther