
Tom Feuerstacke und Matthias Miersch besprechen einen Burgfrieden
ZWISCHEN STREIT UND VERANTWORTUNG
Die Große Koalition läuft, die Debatten über Kürzungen der Sozialausgaben, Steuern, die Wehrpflicht, Verteidigungsfähigkeit und die Ukraine dominieren die Schlagzeilen, doch im Kern geht es um Verantwortung und Vertrauen – innerhalb der Regierung und gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Im Interview spricht der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) über die Herausforderungen, die sich aus weltpolitischen Umbrüchen, sozialen Spannungen und der Digitalisierung ergeben. Er erklärt, warum Freiwilligkeit besser motiviert als Pflicht, warum Deutschland handlungsfähig bleiben muss, ohne Soldatinnen und Soldaten unnötig zu gefährden, und warum ein respektvoller Umgang in der Politik wiederhergestellt werden muss. Ein Gespräch über Stabilität, demokratische Kultur und die politische Realität in bewegten Zeiten.
Matthias, seit mehr als hundert Tagen ist die Koalition nun unterwegs und für viele wirkte es so, als hättet ihr euch erst einmal heftig gestritten und jetzt einen Burgfrieden geschlossen. Warum hat das eigentlich so lange gedauert, bis ihr euch wieder zusammengerauft habt, und was bedeutet dieser neu gefundene Zusammenhalt für uns Bürgerinnen und Bürger in Würzburg und darüber hinaus?
Das Wort Frieden ist für mich immer ein wenig schwierig, weil Politik nie nur Harmonie bedeutet, sondern auch Auseinandersetzung. Aber es stimmt schon, das Vertrauen zwischen den Partnern war durch die gescheiterte Richterwahl vor der Sommerpause massiv angekratzt. Diese Wahl ist nicht zustande gekommen und das hat Spuren hinterlassen, nicht nur in den Fraktionen, sondern auch im Gesamtklima. Wir hatten dann zwei Monate Sommerpause und ein Vakuum, das die Unsicherheit noch verstärkt hat. Jetzt war es entscheidend, dass wir uns zusammengesetzt haben, sehr offen, ausgesprochen ehrlich und auch empathisch miteinander gesprochen haben. Eigentlich waren zwei Stunden angesetzt, am Ende wurden es vier. Das zeigt, wie groß der Klärungsbedarf war. Wichtig ist, dass wir eine Basis gefunden haben, ein gemeinsames Verständnis zwischen SPD und Union. Und das heißt für die Menschen draußen, dass die Blockaden gelöst sind. Wir können uns endlich um die wichtigen Vorhaben kümmern, die lange in der Luft hingen, etwa das Rentenpaket, das Tariftreuegesetz oder die Debatte um den Wehrdienst. Bis zum Jahresende soll da noch einiges durch den Bundestag kommen. Das ist jetzt die konkrete Übersetzung dieses Burgfriedens in greifbare Politik.
Vertrauen innerhalb der Koalition ist das eine, aber Vertrauen draußen bei den Bürgerinnen und Bürgern ist das andere. Viele haben das Gefühl, dass schon nach den ersten hundert Tagen viel Porzellan zerschlagen wurde. Glaubst du wirklich, dass man mit so einem zweitägigen Krisentreffen Vertrauen zurückgewinnen kann, oder was müsste konkret passieren, damit die Menschen euch wieder mehr zutrauen?
Mit einem Treffen allein gewinnt man kein Vertrauen zurück. Vertrauen kann nicht beschlossen werden, es muss wachsen, und zwar über Ergebnisse. Wenn wir uns zwei Tage lang einschließen und dann herausgehen und sagen, jetzt ist alles geklärt, dann glaubt uns das keiner, solange es bei Worten bleibt. Entscheidend ist, dass wir liefern. Bürgerinnen und Bürger wollen sehen, dass wir handeln, dass Gesetze verabschiedet werden, die im Alltag etwas verbessern. Ob das die Stabilisierung der Rente ist, die Sicherung fairer Löhne oder Antworten auf die Fragen rund um Energieversorgung und Wehrdienst: Das sind die Themen, die zählen. Wenn wir es schaffen, diese Punkte gemeinsam voranzubringen, dann zeigt sich, dass die Koalition funktioniert. Nur so entsteht Schritt für Schritt wieder Vertrauen. Alles andere wären Schlagzeilen ohne Substanz.
Mit Jens Spahn politischen Frieden auszuhandeln, das wirkt für viele eher widersprüchlich, weil er immer ein sehr kantiger Akteur ist. Nun sprecht ihr von einem Burgfrieden innerhalb der Koalition. Gleichzeitig wisst ihr, dass die Mehrheit im Bundestag mit zwölf Stimmen extrem knapp ist. Wie fest sitzt ihr in dieser Konstellation tatsächlich im Sattel und wie könnt ihr das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen?
Wir sind aus einem sehr harten Wahlkampf herausgekommen, ohne lange Übergangszeit, und mussten sofort Koalitionsverhandlungen führen. Diese waren rasant abgeschlossen und unmittelbar danach begann der parlamentarische Arbeitsmodus. In dieser Geschwindigkeit konnte ein echtes Vertrauensverhältnis gar nicht erst wachsen. Die ersten Wochen haben wir dennoch viel auf den Weg gebracht, aber mit der gescheiterten Richterwahl kam eine Zäsur. Da wurde ein Versprechen nicht eingehalten, und genau solche Wortbrüche sind in der Politik besonders gravierend, weil Zusagen die Grundlage jeder Zusammenarbeit bilden. Das musste aufgearbeitet werden, und in Würzburg ist dies auch in intensiven Gesprächen geschehen. Klar ist, Vertrauen kann nicht angeordnet werden. Es muss durch tägliches Handeln entstehen und wachsen. Und gerade mit einer Mehrheit von nur zwölf Stimmen ist jedem bewusst, dass wir uns keine weiteren Fehler erlauben dürfen. Entscheidend wird sein, dass das neue Grundverständnis zwischen den Vorständen jetzt auch in die Fraktionen hineinwirkt. Nur wenn alle bereit sind, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, kann die Koalition stabil bleiben und den Menschen zeigen, dass sie handlungsfähig ist.
Du hast betont, dass Vertrauen nicht verordnet werden kann und es gute Beschlüsse benötigt, damit die Bevölkerung wieder Vertrauen fasst. Dennoch sprechen manche vom „Geist von Würzburg“, der nun für Einigkeit sorgen soll. Reicht eine solche symbolische Formel wirklich aus, damit ihr wieder glaubwürdig werdet?
Ich bin sehr vorsichtig mit solchen Formeln. Der sogenannte Geist von Würzburg ist kein Allheilmittel. Er kann allenfalls ein Signal sein, dass man sich aufeinander zubewegt hat. Aber Vertrauen entsteht nicht durch ein Treffen oder eine Überschrift, sondern nur durch konkrete politische Ergebnisse. Die Menschen schauen nicht auf unsere Sitzungen, sondern darauf, ob wir Probleme tatsächlich lösen. Hinzu kommt, dass sich die politische Kultur durch Social Media stark verändert hat. Debatten werden viel schneller, härter und auch unfairer geführt, wie wir zuletzt bei der Richterwahl gesehen haben, als falsche Behauptungen über Kandidatinnen und Kandidaten verbreitet wurden. Umso wichtiger ist es, dass wir als Abgeordnete uns nicht treiben lassen, sondern Verantwortung übernehmen und gute Beschlüsse fassen. Das ist der einzige Weg, Vertrauen zurückzugewinnen. Ob es um sichere Renten, faire Löhne oder die Energieversorgung geht – wenn wir hier liefern, zeigt sich, dass die Koalition trotz aller Unterschiede funktioniert. Alles andere sind wohlklingende Schlagworte, die ohne Inhalte nicht tragen.
Die letzte Große Koalition ist im Misstrauen versunken, überall wurden Dinge durchgestochen, am Ende war kein Vertrauen mehr da. Und dann kommt bei euch die Richterwahl – eine der härtesten Szenen, die viele überhaupt je erlebt haben. Da wird eine hoch angesehene Juristin öffentlich zerrissen, die Reputation einer Professorin und ehemaligen Verfassungsrichterin beschädigt. Spahn sagt hinterher, er könne sich an Absprachen nicht mehr erinnern. War das nicht der Punkt, an dem ihr als SPD hättet sagen müssen: „Bis hierhin und nicht weiter, wir können so nicht zusammenarbeiten“?
Diese Frage habe ich mir natürlich auch gestellt. Ich war in dieser Zeit im engen Austausch mit Frau Brosius-Gersdorf. In all unseren Gesprächen hat sie große staatspolitische Verantwortung gezeigt. Die Art und Weise, wie sie öffentlich behandelt wurde, war absolut inakzeptabel. Wir haben uns immer hinter sie gestellt – öffentlich, aber auch im direkten Gespräch. Aber die Frage ist, ob man in diesem Moment die frische Koalition platzen lassen kann und ob die Bürgerinnen und Bürger das verstanden hätten. Ich glaube nicht. Viele Menschen erwarten von uns, dass wir die Verantwortung, die wir mit dem Koalitionsvertrag übernommen haben, nicht leichtfertig aufgeben.

Mit einem Treffen allein gewinnt man kein Vertrauen zurück
Viele Menschen hätten in so einer Situation vielleicht sogar Neuwahlen gefordert, nach dem Motto: „Wenn das Vertrauen so beschädigt ist, dann lieber einen Schnitt.“ Wäre das nicht ehrlicher gewesen, als sich durchzuwursteln und die nächste Krise abzuwarten?
Ich verstehe diesen Gedanken, aber man muss die politische Realität sehen. Im Bundestag gibt es neben der Großen Koalition im Moment rein rechnerisch nur eine Mehrheit zwischen Union und AfD. Und das wäre ein Szenario, das für die Demokratie in Deutschland gefährlich wäre. Deshalb haben wir uns in der SPD bewusst entschieden, die Große Koalition einzugehen, getragen von einer sehr breiten Zustimmung der SPD-Mitglieder. Diese Verantwortung können wir nicht leichtfertig verspielen. Ich sehe auch nicht, dass Neuwahlen automatisch eine stabilere oder progressivere Mehrheit bringen würden – im Gegenteil, das Risiko wäre groß, dass es noch schwieriger wird. Das heißt nicht, dass man alles um jeden Preis mitmachen muss. Es gibt Situationen, da muss man sagen: Es geht nicht mehr. Aber bei der Richterwahl war dieser Punkt aus meiner Sicht bisher nicht erreicht. Umso wichtiger war es, in Würzburg mit der Union sehr offen über die Folgen zu sprechen. Ich habe den Eindruck, dass wir dort eine Grundlage geschaffen haben. Gleichzeitig weiß ich, wie fragil das Ganze ist. Wir leben in sehr volatilen Zeiten, in Deutschland wie in anderen Ländern. Regierungen zerbrechen heute schneller, weil Polarisierung und Verunsicherung zunehmen. Gerade deshalb ist es unsere Aufgabe, nicht ängstlich, aber verantwortungsvoll zu handeln.
Du sprichst von dem Zuspruch, dass ihr das jetzt hinbekommen müsst. Aber woher kommt dieser Zuspruch eigentlich genau? Denn wenn man sich in Münster umhört, klingt das ganz anders. Wohnraum fehlt, Kitas und Schulen sind am Limit, die Stimmung ist gereizt. Das ist nur ein Mikrokosmos, aber er zeigt doch, dass die Leute unzufrieden sind. Also, wer sagt euch eigentlich „Macht weiter so“ – und was meinen die Menschen damit wirklich?
Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass die Leute uns auf die Schulter klopfen und sagen, alles sei gut. Ganz im Gegenteil, die Menschen waren nach der gescheiterten Richterwahl hoch alarmiert, viele haben sich gefragt, wie es so weit kommen konnte. Aber was ich immer wieder höre, ist nicht Lob, sondern ein Auftrag. Eine Szene hat sich mir besonders eingeprägt: Ich war abends mit Jens Spahn und Alexander Hoffmann essen, danach liefen wir durch die Fußgängerzone. Vier Passanten sprachen uns an und sagten nur einen Satz: „Ihr müsst das hinbekommen.“ Das fasst die Stimmung hervorragend zusammen. Die Menschen wollen keine Dauerkrise, keine endlosen Streitereien, sondern Lösungen. Und genau darin liegt unsere Verantwortung. Wir haben ein Mandat für vier Jahre, und das müssen wir ernst nehmen. Natürlich gibt es dabei Widersprüche. Sobald ein Kompromiss gefunden ist, kommt sofort Kritik von der einen oder der anderen Seite. Das war in der Ampel so und das erleben wir auch jetzt wieder. Aber Demokratie lebt vom Kompromiss. Wir müssen als Gesellschaft lernen, das wieder als Stärke zu begreifen und nicht als Schwäche. Denn es geht nicht darum, wer sich durchsetzt, sondern ob am Ende etwas für die Menschen herauskommt. Wenn ich den Blick weite, wird die Dimension noch deutlicher. Wir sind eine der weltweit größten Volkswirtschaften, viele Länder schauen auf Deutschland als Stabilitätsfaktor. Wenn wir hier ins Wanken geraten, hat das Folgen weit über unsere Grenzen hinaus. Das spüren auch die Menschen, auch wenn sie es vielleicht nicht so formulieren. Ihr Zuspruch bedeutet also in Wahrheit: Übernehmt Verantwortung, macht eure Arbeit, und zeigt, dass ihr handlungsfähig seid. Und noch eines beunruhigt mich. Das Thema Klimaschutz ist im Alltag vieler Menschen nach hinten gerutscht. In einer Stadt wie Münster mag es präsent sein, aber in anderen Regionen ist es kaum noch spürbar. Gerade als Energie- und Klimapolitiker sehe ich das mit Sorge. Denn wenn wir das Thema verlieren, verlieren wir nicht nur politische Glaubwürdigkeit, sondern auch wertvolle Zeit. Deshalb lese ich diesen Zuspruch nicht als „alles prima“, sondern als dringenden Appell: Regiert, liefert Ergebnisse und verliert die großen Aufgaben nicht aus den Augen.
Wir müssen über die weltpolitische Lage sprechen. Über das Ansehen Deutschlands als stabilisierende Kraft und die Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg. Gleichzeitig müssen wir über die Verteidigungsfähigkeit, Aufrüstung und die Notwendigkeit, Investitionen in die Bundeswehr zu erhöhen, sprechen. Wie beurteilst du persönlich diese Entwicklung und die Schritte, die die Große Koalition bisher unternommen hat, um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken?
Ich muss ehrlich sagen, dass mich die Realität des russischen Angriffskriegs überrascht hat. Über viele Jahre habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir weiter auf Entspannung setzen, auf Diplomatie und internationale Stabilität. Dass wir jetzt plötzlich in einer solchen Situation stehen, war nicht absehbar. Die Ampelregierung hat zwar schnell auf die „Zeitenwende“ reagiert, doch oft fehlte der klare Schritt, um massiv in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren, weil Budgetfragen und Schuldenbremse ständig gegen andere Prioritäten gestellt wurden – Renten, Kommunen, soziale Ausgaben. In der Großen Koalition haben wir nun gemeinsam mit den Grünen eine entscheidende Änderung durchgesetzt: die Bereichsausnahme. Das bedeutet, dass alles, was wir für Verteidigung ausgeben, nicht auf den allgemeinen Haushalt angerechnet wird. Das ist ein großer Schritt, der die notwendigen Investitionen ermöglicht, ohne andere Bereiche auszubremsen. Gleichzeitig sehen wir, dass Deutschland nicht mehr uneingeschränkt auf die Vereinigten Staaten bauen kann. Die geopolitische Realität zeigt, dass wir Europa verteidigungsfähig machen müssen. Diese Investitionen sind richtig, weil sie Deutschland in die Lage versetzen, Verantwortung zu übernehmen, eigene Sicherheitsinteressen zu wahren und auch im Bündnis handlungsfähig zu bleiben.
Die Diskussion um die Wehrpflicht ist in diesem Zusammenhang ein weiterer zentraler Punkt. CDU und CSU plädieren für eine schnelle Wiedereinführung der Pflicht, die SPD setzt auf Freiwilligkeit mit Anreizen. Wie wollt ihr dieses Dilemma lösen und wie seht ihr die Chancen, dass genügend Menschen für die Bundeswehr gewonnen werden?
Wir setzen klar auf Freiwilligkeit, weil Motivation entscheidend ist. Wer gezwungen wird, dient nicht mit demselben Engagement wie jemand, der sich bewusst dafür entscheidet. Militärs bestätigen das immer wieder. Unser Ansatz, den Boris Pistorius vorgeschlagen hat und der nun im Kabinett behandelt wird, ist ein System von Anreizen, um die Zahl der Freiwilligen zu steigern. Erste Daten zeigen bereits, dass die Zahlen steigen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Ausbildungskapazitäten und die Infrastruktur bisher nicht ausreichen, um sofort eine Pflicht umzusetzen. Daher ist es sinnvoll, zunächst auf Freiwilligkeit zu setzen, zu beobachten, wie sich das entwickelt, und dann gegebenenfalls nachzusteuern. Das ist ein pragmatischer, realistischer Weg, um die Bundeswehr aufzustocken und gleichzeitig Motivation und Qualität der Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen. Parallel müssen wir die parlamentarische Diskussion führen, damit klar wird, welche Schritte nötig sind, sollte die Freiwilligkeit nicht ausreichen. Ziel ist es, handlungsfähig zu sein, die Armee zu stärken und gleichzeitig gesellschaftliche Akzeptanz zu sichern.

Diese Verantwortung können wir nicht leichtfertig verspielen
Diese Diskussion um die Wehrpflicht spaltet die Koalition: Einerseits soll zunächst auf Freiwilligkeit gesetzt werden, zudem pochen CDU und CSU auf eine schnelle Wiedereinführung der Pflicht. Wie bewertest du dieses Spannungsfeld und wie seht ihr die Chancen, dass die Freiwilligkeit funktioniert?
Wir halten Freiwilligkeit für das stabilste und realistischste System, weil Motivation entscheidend ist. Wer gezwungen wird, dient nicht mit derselben inneren Überzeugung, das bestätigen auch die militärischen Erfahrungswerte. Bisher haben wir viel zu wenig Anreize gesetzt, dabei kann man über Führerscheine, Ausbildungsvergütungen, bessere Ausstattung und Bezahlung viel erreichen. Wir haben nun erste Schritte unternommen, um die Bedingungen für Freiwillige deutlich zu verbessern. Gleichzeitig müssen wir realistisch bleiben: Selbst wenn wir die Wehrpflicht wieder einführen würden, könnten wir aufgrund von Kapazitätsgrenzen und internationalen Verpflichtungen nicht automatisch alle Jahrgänge einziehen. Es wären zusätzliche Mechanismen nötig, etwa Losverfahren, um die verfügbaren Plätze gerecht zu verteilen. Deshalb setzen wir zunächst auf Anreize und beobachten, wie sich die Zahlen entwickeln. Wenn es funktioniert, stärkt das die Bundeswehr nachhaltig. Wenn nicht, müssen wir über weitere Maßnahmen reden. Aber der Kern bleibt: Freiwilligkeit schafft Engagement und Stabilität, Pflicht kann nur nachrangig eine Option sein.
Parallel dazu stellt sich die sicherheitspolitische Frage, wie Deutschland und Europa die Ukraine unterstützen können, ohne deutsche Soldatinnen und Soldaten unnötig zu gefährden. Wie bewertet ihr die Situation und welche Rolle spielt Deutschland dabei?
Wir müssen sehr sachlich vorgehen. Es ist unrealistisch anzunehmen, dass Deutschland oder Europa die Ukraine ohne die USA militärisch absichern könnten. Die Amerikaner werden weiterhin eine entscheidende Rolle spielen, und ohne ihre Unterstützung ist vieles nicht machbar. Deshalb setzen wir einerseits auf die Stärkung der ukrainischen Armee: Logistik, personelle Ausstattung und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung. Gleichzeitig dürfen wir die diplomatischen Möglichkeiten nicht außer Acht lassen. Gipfel, Gespräche und internationale Strukturen, etwa die Vereinten Nationen, sind entscheidend, um eine Lösung herbeizuführen. Deutschland hat bisher fast weltweit am meisten geholfen und muss diese Verantwortung weiterhin verantwortungsvoll wahrnehmen. Die Diskussion über die Beteiligung deutscher Soldaten an Sicherheitsgarantien darf daher nicht leichtfertig geführt werden. Wir müssen abwägen, wie wir die Ukraine effektiv unterstützen, ohne unsere eigene Parlamentsarmee zu überfordern, und gleichzeitig die europäischen Sicherheitsinteressen wahren.
Du hast am Anfang den Umgang mit Demokratie angesprochen und den Wunsch geäußert, dass wir wieder einen gesunden, ordentlichen Ton miteinander finden – zwischen Politikerinnen und Politikern, aber auch in der Gesellschaft insgesamt. Wie können wir es schaffen, dass der öffentliche Diskurs wieder respektvoller wird?
Ich glaube, es ist auch die Verantwortung eines jeden Einzelnen. Ein ordentlicher Umgang kann nicht verordnet werden, leider ist das kein ausschließlich deutsches Phänomen. Weltweit sehen wir, wie Extremismus, Populismus und autoritäre Strukturen zunehmen, und Schwarz-Weiß-Denken überall Einzug hält. Social Media verstärkt diesen Effekt, und mit den neuen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz werden die Herausforderungen noch komplexer. Das greift an die Grundfesten unseres Zusammenlebens, und deshalb leben wir in einer Zeit des Umbruchs. Ich wünsche mir, dass Bürgerinnen und Bürger, aber auch Politikerinnen und Politiker, auf wehrhafte, reflektierte Weise mit Demokratie umgehen. Wir müssen Verantwortung übernehmen, indem wir Respekt vorleben, wie wir miteinander streiten und Entscheidungen treffen. Ein anschauliches Beispiel ist für mich Würzburg: Dort haben wir erlebt, dass man innerhalb einer Großen Koalition Profile wahren kann, gleichzeitig Verantwortung übernimmt und konstruktiv Lösungen findet. In einer Zeit der Polarisierung ist genau das die Hauptaufgabe – zu zeigen, dass Politik streitbar, aber lösungsorientiert sein kann, und daran möchte ich mich messen lassen.
Matthias, danke für das Gespräch.
Danke euch.
Matthias Miersch
der 1968 in Hannover geborene Jurist sitzt seit 20 Jahren für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Bundestag. Seit letztem Jahr ist er der Chef der SPD im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin und natürlich auch außerhalb.
lllustration Thorsten Kambach


