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2022-11-07 Stadtgeflüster Illustration Ekki kurz.tif

Stadtgeflüster-Interview mit Kevin Kühnert

DIE WELT WIRD KEINE GEMÜTLICHE PUPPENSTUBE

Umfragewerte im einstelligen Bereich für die eigene Partei, der Vormarsch der AfD in Sachsen und innenpolitische Herausforderungen – zu lösen in einer Ampelkoalition. Der Generalsekretär der SPD hat viel zu tun und hat sich trotzdem in der Alexianer-Waschküche am Bahnhof ein paar Fragen gestellt. Denn Kevin Kühnert hat verstanden: Wir verstehen nichts mehr. Darum verspricht er im Interview, politische Entscheidungsprozesse transparent machen zu wollen. Über fehlende Lösungskonzepte der AfD und verfestigten Rechtsradikalismus im Osten, Fachkräftemangel, der schon lange ein Arbeitskräftemangel ist und Wohnungslosigkeit, für die Kevin Kühnert Privatisierungswahn und Marktfetisch verantwortlich macht. Und warum es nicht mehr, sondern inhaltlich klare Interviews geben muss.

Wir kommen wir leider nicht drumherum, die aktuellen Umfragewerte deiner Partei anzusprechen. Es scheint, dass viele Wähler das Vertrauen in die Sozialdemokraten verloren haben. Was kannst du diesen Menschen versprechen, um es wiederzugewinnen?


Was ich nicht versprechen kann, ist, dass die Welt ruhiger oder gar zur gemütlichen Puppenstube wird. Ich glaube, viel Verunsicherung entstand durch die Katastrophen der letzten Jahre, die viele Menschen mürbe gemacht haben. Was ich verspreche, ist der unbedingte Wille, politische Prozesse und Abläufe nachvollziehbar zu machen. Regieren bedeutet unter den aktuellen Umständen die schwierige Suche nach guten Kompromissen – diese Aufgabe hat die Ampelkoalition. Ich glaube, viele Kompromisse würden mehr Akzeptanz finden, wenn die Leute nachvollziehen könnten, wie ein Kompromiss zustande gekommen ist. Ein Beispiel dafür sind die Sparentscheidungen, die die Bundesregierung im Dezember treffen musste. Hier wurde im Vorfeld und nach der Entscheidung nicht genug mit den Betroffenen geredet und erklärt, wo die Probleme liegen, wo und warum welche Summen eingespart werden müssen.


Dass insgesamt einfach eine Stringenz zu erkennen ist, dass man weiß, da kann ich mich drauf verlassen, die wissen, was sie tun und: Ich verstehe auch, was sie da tun!


Ja. Ich glaube, die meisten SPD-Wähler haben 2021 ihre Stimme mit der Erwartung abgegeben, dass sie Kompetenz wählen. Sie wissen, dass sie nicht zu 100 Prozent die Politik bekommen können, die sie sich wünschen, das ist so in einer Demokratie. Aber der Anspruch ist, dass Politik handwerklich gut gemacht ist. Das wollen wir erfüllen und wissen sehr genau, wo wir dem Anspruch noch nicht gerecht werden. An anderer Stelle hingegen wird sehr gut regiert. In der internationalen Politik beispielsweise ist Deutschland hoch angesehen und eine der stärksten diplomatischen Kräfte. Ich bin überzeugt, wenn Joe Biden sagen müsste, mit wem er am vertrauensvollsten zusammenarbeitet, würde er Olaf Scholz als Ersten nennen. Auch innenpolitisch haben wir bei der Bekämpfung der Energiekrise oder dem Ausbau der Erneuerbaren richtig was geschafft, nur wird das oft von Meinungsverschiedenheiten überlagert. Weil es natürlich Gerechtigkeitsfragen gibt, bei denen eine FDP und eine SPD mitunter sehr, sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit haben.


Da gibt es aber noch eine andere Partei, zu der du dich wahrscheinlich nicht so hingezogen fühlst – die AfD. Aufgrund der aktuellen Umfragewerte besteht die Möglichkeit, dass sie in Sachsen die Landtagswahl gewinnt. Die AfD kommt auf 34 Prozent, die SPD dagegen liegt im einstelligen Bereich. Was ich daran nicht verstehe, ist, dass das doch eigentlich die Menschen sind, die eine SPD mit ihrer Politik hervorragend erreichen müsste. Warum tut ihr euch da so schwer?


Wir erreichen diese Menschen mit unserer Politik durchaus. Wenn man sich anschaut, wo im Land hat der Mindestlohn – die Erhöhung auf 12 Euro – sich besonders ausgezahlt? Wo profitieren besonders viele Leute von dem ausgeweiteten Wohngeld, dem Kinderzuschlag, der Verbesserung für Erwerbsminderungsrentner? Alles konkrete Verbesserungen, die die SPD in dieser Regierung durchgesetzt hat. Und besonders stark von diesen Erfolgen profitiert haben statistisch betrachtet die Menschen in Ostdeutschland. Wir stellen also fest: Aus Dankbarkeit alleine wird eine Partei nicht gewählt. Das ist keine Wählerbeschimpfung, ich will das einfach nur festhalten, um auf die Frage zu antworten. Wir haben verstanden, dass man zwar die Portemonnaies der Bevölkerung erreichen kann, damit aber noch nicht zwingend die Herzen und Köpfe der Menschen. Die Forschung ist übrigens sehr klar: In den Regionen, wo die AfD so stark ist, gibt es ein erhebliches Potenzial, das die Partei nicht trotz, sondern wegen der Programmatik wählt. Das müssen wir uns klarmachen. Man kann also nicht so einfach sagen: Würde die Ampel weniger streiten, wäre die AfD ein Nischenphänomen. Sie hat längst eine Basis oberhalb von fünf Prozent.


Also gegen diesen Rechtsradikalismus kommt man nicht an.


Gegen den verfestigten Rechtsradikalismus kommt man kurzfristig nicht an. Der ist aber bei weitem nicht mehrheitsfähig. Die sogenannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die seit vielen Jahren erscheint, hat in ihrer letzten Erhebung ausgewiesen, dass wir einen Anteil von sieben bis acht Prozent Menschen mit geschlossenen rechtsradikalen Weltbildern in Deutschland haben. So viel wie noch nie seit Start der Studienreihe. Das ist erheblich, aber damit können wir glaube ich klarkommen. Und dann gibt es Leute darüber hinaus, die hatten auch vor ihrer ersten Wahlentscheidung für die AfD teilweise schon Einstellungen, die man vielleicht als rassistisch, als homophob, als frauenfeindlich bezeichnen könnte. Die haben aber kein geschlossen demokratiefeindliches Weltbild.

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Das Problem auf dem Wohnungsmarkt hat verschiedene Ursachen

Was ist da passiert?


Diese Menschen haben früher Wahlentscheidungen eher danach getroffen, wer für sie die beste Arbeitsmarkt- oder Wohnungspolitik macht. Ihre Vorurteile waren vorhanden, aber sie waren nicht wahlentscheidend. Jetzt aber entscheiden sie eher danach, wer ihnen nach dem Mund redet, wenn es beispielsweise um Migrationspolitik geht. Das heißt, für diese Menschen müssen wir den Fokus, was das Wichtigste in ihrem Leben ist, wieder verschoben bekommen. Im Moment finden sie, dass die Fragen von Flucht, Migration, Identität für sie die wichtigsten Fragen sind. Und das passiert nicht immer faktenbasiert. Ich als Sozi möchte ihnen gerne Argumente an die Hand geben, weshalb die Fragen der Bezahlbarkeit und Planbarkeit ihres Lebens eigentlich die entscheidenden Grundlagen sind.


Existenzsicherung, prekäre Arbeitsverhältnisse vermeiden.


Genau, all die Dinge, gegen die die AfD ja gar nichts tun möchte. Da beschreiben die gerne Probleme, aber Lösungskonzepte haben sie nicht. Die AfD springt auf jeden Protest auf, jetzt auch bei den Bauern. Und vergisst dann gerne, dass in ihrem Programm steht, dass sie alle landwirtschaftlichen Subventionen abschaffen will. Die AfD will aus der EU aussteigen, hat Frau Weidel gerade nochmal bekannt. Das ist die Institution, aus der eigentlich alle Landwirte in Deutschland maßgeblich ihre Unterstützung beziehen. Also wer glaubt, umgesetzte AfD-Politik würde diesen Bevölkerungsgruppen helfen: Nee, es wäre ein Schuss ins Knie. Wie so oft.


„Ausländer raus! – Deutschland den Deutschen.“ Es gibt aber auch Länder wie Kanada und andere, die aus der Zuwanderung Potenziale ziehen. Fachkräftemangel, Pflegekräfte und Erzieher, das ist ja eine richtige Katastrophe in Deutschland. Wenn wir sagen, das ist ein akutes Thema, verschweigen wir, dass es seit fünf Jahren mindestens schon ein akutes Thema ist. Warum kriegen wir das nicht hin? Haben wir in Deutschland lieber keine Pflegekräfte, als welche, deren Abschluss nicht hundertprozentig unseren Curricula entsprechen?


(Lacht). Eine Zeit lang war das so. Wir haben mittlerweile ja ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, bei dem wir uns in zentralen Aspekten an Kanada orientiert haben. Wir brauchen übrigens nicht nur Fachkräfte in Deutschland, sondern wir brauchen die ganze Palette der Arbeitskräfte von A bis Z. Wer glaubt, wir suchten nur ein paar indische IT-Spezialisten – das mag vor 20 Jahren der Fall gewesen sein. Heute haben wir zwei Millionen unbesetzte Stellen und unsere demografische Entwicklung ist so, dass jedes Jahr die Lücke um 400000 Menschen größer wird, wenn wir nichts tun. Also, an einer Einwanderung von Arbeitskräften führt kein Weg vorbei. Deshalb werben wir an – gezielt in solchen Ländern, in denen es einen Geburtenüberschuss gibt.


Warum besonders da?


Wir wollen den anderen Ländern ihre dort dringend benötigten Arbeitskräfte nicht wegnehmen, aber viele Länder schließen gerne mit uns Partnerschaften. Beispielsweise Indonesien, wenn es um Pflegekräfte geht. Die Agenturen für Arbeit in Deutschland und in den jeweiligen Herkunftsländern kooperieren auch, sodass Spracherwerb und Qualifizierung oft schon vor Ort im Herkunftsland stattfindet und die Menschen dann hierherkommen und direkt in ihre Arbeit einsteigen können.


Es gibt viel zu tun, aber wir sind dran?


Ja. Die Zahlen müssen noch viel größer werden, das muss man so deutlich sagen. Deswegen haben wir ja zum Beispiel auch dafür gesorgt, dass es den sogenannten Spurwechsel gibt, dass Menschen, die ein Asylverfahren durchlaufen und keinen Schutzstatus bei uns bekommen haben, aber geduldet sind, dass diese bleiben können, wenn sie dauerhaft eine Arbeit haben. Also dass man über den Weg der Arbeitsaufnahme und der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts dann eben dauerhaft in Deutschland bleiben kann, auch wenn es keinen Flüchtlingsschutz gegeben hat. Das ist richtig so.

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Wir sehen uns wieder im Trinkteufel in Kreuzberg

Wir haben im Supermarkt keine Lebensmittel mehr, weil uns der Lkw-Fahrer fehlt und die Bäckerei muss schließen, denn es ist kein Personal da.


Absolut. Man geht durch eine beliebige Fußgängerzone in Deutschland und guckt in die Schaufenster. Die Aushänge, mit denen Personal gesucht wird, sind eindeutig.


Ein weiteres akutes Dauerthema ist Wohnungslosigkeit. Bis 2030 soll diese überwunden werden. Du hast bei Sandra Maischberger gefragt, warum dürfen Menschen überhaupt mehr als 20 Wohnungen besitzen? Ich würde an einer ganz anderen Stelle ansetzen: Jemand, der in den Wohnungsbau investiert, der soll meines Erachtens ruhig auch 20 oder mehr Wohnungen besitzen. Der kann durchaus auch Profite aus diesen Wohnungen schlagen. Aber warum schafft der Staat es nicht, eine faire und gerechte Vermietung durchzusetzen?


Das Problem auf dem Wohnungsmarkt hat viele Ursachen, aber die größte ist sicherlich der allgemeine Privatisierungswahn und Marktfetisch der letzten 20, 30 Jahre: Der Markt sollte es regeln. So hat man es in vielen Bereichen gesagt, gerade auch beim Wohnen. Heute sehen wir, bezahlbares Wohnen hat der Markt nicht geregelt. Was er geregelt hat, ist, dass Städte und Gemeinden ihren Grund und Boden verkauft haben, dass auf teurem Grund und Boden private Bauherren teure Wohnungen gebaut haben. Die sind entweder teuer verkauft oder teuer vermietet worden. Die Leidtragenden sind die Menschen, die nur kleine Mieten zahlen und sich keine Wohnung kaufen können. Deswegen muss genau bei diesen Faktoren angesetzt werden.


Aber Bauen ist teuer, oder nicht?


Man kann auch in heutigen Zeiten vergleichsweise günstig bauen. Ich bin Baupolitiker im Bundestag, ich kenne Projekte, wo tagesaktuell günstig gebaut wird, auch von Privaten übrigens. Das geht aber nur, wenn die öffentliche Hand dafür neben einer gewissen Förderung auch Grundstücke bereitstellt, die nicht verkauft, sondern in Erbpacht vergeben werden. Die bleiben in öffentlicher Hand und damit sind auch keine Kauf- und Spekulationskosten verbunden, die wir alle am Ende mit unserer Miete noch mitzahlen müssen. Und es müssen solche Unternehmen sein – kommunale, Genossenschaften oder Private – die einen guten Grundstock an Eigenkapital mitbringen. Dann müssen die sich nämlich nicht so viel Geld bei der Bank leihen und müssen auch nicht so viele Zinsen bezahlen.


Denn die Zinsen wirken sich auf die Mieten aus …


Ja. Die Privaten, die richtig viel Reibach gemacht haben, die haben sich immer viel Geld bei Banken geliehen und na ja, dann müssen die Käufer und Mieter am Ende diese Zinslasten mitbezahlen. Und übrigens auch noch die Rendite von den Vonovia-Aktionären und anderen, die muss ja auch noch mit reingeholt werden. Wenn die städtische Wohnungsbaugesellschaft baut, muss am Ende niemandem eine Rendite ausgezahlt werden. Wir müssen die Richtigen bauen lassen und ihnen günstig geliehenen Grund und Boden dafür zur Verfügung stellen. Dann wird es auch besser mit dem bezahlbaren Wohnen.


Da würde die FDP jetzt sagen, wer ist Kevin Kühnert, dass er bestimmt, wer die Richtigen sind …


Ich will nicht Jury spielen und sagen, wer die Richtigen sind, ich will Spielregeln aufstellen. Das ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber und dann kann sich da jeder drauf bewerben. Und wenn Herr Buch, der CEO von Vonovia, sagt, zu diesen Bedingungen mache ich das, dann soll er das gerne tun. Wir führen jetzt eine Rechtsform in Deutschland wieder ein, die es bis vor 30 Jahren schon gab, die Wohngemeinnützigkeit. Das ist ein Deal zwischen Staat und den Eigentümern, in dem der Staat Steuernachlässe, zum Beispiel bei der Körperschaftssteuer, gibt. Und im Gegenzug verpflichten sich Wohnungsunternehmen, dauerhaft die Wohnungen günstig zu halten. Sie vermieten sie unter Mietspiegelniveau und verpflichten sich auf eine strenge Deckelung möglicher Mietsteigerungen pro Jahr, sodass sie wirtschaften können. Kein Unternehmen wird gezwungen, in diese Rechtsform der Wohngemeinnützigkeit zu gehen, aber man darf es – als kommunales Unternehmen, als Privater, völlig egal. Es wird auch Fördermittel dafür geben, in diesem Segment neu bauen zu können. Das kann der Beginn einer Trendwende sein, wenn wir diesen Weg konsequent gehen.

Kevin Kühnert
Der 1989 in West-Berlin geborene Sozialdemokrat ist seit 2021 direkt gewähltes Mitglied im Bundestag und Generalsekretär der SPD. Er wurde im Dezember letzten Jahres mit mehr als 90 Prozent der Stimmen auf dem SPD-Bundesparteitag im Amt bestätigt. Kevin Kühnert hat sich dafür eingesetzt, dass der Mindestlohn angehoben wurde. Das Rentenalter will er nicht anheben und Wohngemeinnützigkeit wieder einführen. Der 34-jährige Sozialdemokrat bezeichnet sich selbst nicht als Pazifisten und nimmt im Bundestag lieber die Treppen als den Aufzug.

llustration Thorsten Kambach / Fotos Armin Zedler

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