
Jürgen Coße und Stephan Günther sprechen über die Neuwahlen.
MIT CHARAKTER UND KONSTRUKTIVITÄT IM BUNDESTAG
Vor etwas über zwei Jahren trafen wir den Bundestagsabgeordneten Jürgen Coße zuletzt und sprachen mit ihm über Außenpolitik und den Weg in den Bundestag. Fast unvorhergesehene Ereignisse sorgten dafür, dass wir uns erneut trafen. Etwas früher als erwartet. Ende letzten Jahres feuerte Bundeskanzler Scholz den Finanzminister Lindner. Daraufhin platzte die Ampel-Koalition und Scholz stellte die Vertrauensfrage, was in Neuwahlen endete. Bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im Januar schaffte der SPD-Politiker erneut den Einzug ins Parlament. Wir sprachen mit Jürgen über das letzte Dreivierteljahr, den Wahlkampf, Kommunalpolitik und seine neuen und alten Rollen in der Fraktion der SPD und natürlich im Bundestag.
Jürgen, es ist eine Menge passiert, seit dem letzten Zusammentreffen. Fangen wir mal im letzten Jahr an: Wie hast du die Zeit erlebt, als die Ampel-Koalition zu platzen drohte?
Nun, wir sind mit viel Energie in die Legislaturperiode gestartet und mit Ernüchterung aufgewacht. Wenn man sich mal vorstellt, dass ein Koalitionspartner – gemeint ist die FDP – sogar ein Drehbuch hatte um quasi die Koalition fortzuführen, zu boykottieren und im Prinzip so weit zu provozieren, hinausgeschmissen zu werden. Das ist in meinen Augen mehr als unanständig, und ich glaube, da waren auch alle ziemlich frustriert. Den Preis hat die FDP definitiv bezahlt, sie ist nicht mehr im Deutschen Bundestag. Daraus lernen kann man: Wenn man sich verabredet hat, zusammenzuarbeiten, dann sollte man zusammenarbeiten und nicht heimlich irgendwelche Drehbücher schreiben, um einen Rausschmiss zu provozieren.
Wann war der Zeitpunkt, an dem du nicht mehr an das Weiterbestehen der Ampel geglaubt hast?
Wenn wir uns das heute einmal anschauen, ist es ja an vergleichsweise wenig Geld gescheitert, wenn man es einmal zu dem mit uns aufgestellten Sondervermögen von 500 Milliarden Euro ins Verhältnis setzt. Das ist ja im Prinzip ein Witz, dass die FDP da seinerzeit nicht mitgegangen ist. Da merkte man schon, dass es nicht mehr geht. Trotzdem ist das Entsetzen natürlich auch gut, denn wer Verantwortung für dieses Land hat, der sollte, wenn er in der Regierung ist, diese auch ernst nehmen. Leider ist genau das bei einem Koalitionspartner nicht passiert, der Rest ist bekannt …
Lindner wurde gefeuert, Scholz kündigte die Vertrauensfrage an. Was passiert in so einem Moment in der Fraktion? Wie stellt man sich dann auf?
Man muss natürlich, was nicht einfach ist, den Schalter umlegen. Ausgehend von der Vertrauensfrage war klar, dass zeitnah Neuwahlen anstehen und man sehr schnell im Wahlkampf landet. Das hat Vor- und Nachteile. Die Vorbereitungszeit ist extrem kurz, was aber den Vorteil bietet, dass der Wahlkampf kurz und prägnant ist. Natürlich bietet er auch die größere Gefahr der Einflussnahme von außen. Es wird viel faktenfreies Zeug erzählt oder gelogen, was an der Stelle nicht angenehm ist.
Wie ist es dir lieber?
Mir wäre es lieber, wir würden Wahlen ordentlich machen. Nach vier Jahren beim Bundestag können wir uns dann ordentlich darauf vorbereiten. Wir haben dann Zeit, in der Gesellschaft alle unterschiedlichen Themen gut miteinander abzuwägen, und die Bevölkerung hat diese Zeit auch. Somit geben wir nicht nur den Populisten den Raum dafür. Dann haben wir in der Gesellschaft und die Bevölkerung auch Zeit, alle unterschiedlichen Themen gut miteinander abzuwägen und nicht nur Populisten dafür Raum zu geben.
Mit welcher Erwartung seid ihr in die Neuwahlen gegangen?
Ich hatte die Befürchtung, dass es für die SPD ein noch viel grausameres Wahlergebnis gibt. Die Stimmung war schon irgendwie sehr CDU-lastig. Aber Spekulationen sind immer schwierig, weil du nie weißt, wie das ausgeht. Du verlierst dadurch viel Zeit, dich um deine eigentliche Aufgabe zu kümmern.

Es wird oft faktenfreies Zeug erzählt bzw. gelogen
Und jetzt sitzen wir hier und werden wieder von der SPD und Union regiert. Warst du an der Koalitionsbildung beteiligt?
Ja, natürlich. Wie alle Mitglieder der SPD bin ich natürlich auch gefragt worden, ob ich dem Koalitionsvertrag zustimme. Ich habe aber auch Zuarbeit geleistet. In einigen Fachbereichen habe ich viel telefoniert und Fragen beantwortet. Man arbeitet bei so etwas eng zusammen und steht eigentlich immer zur Verfügung.
Eine Liebeshochzeit ist diese Koalition ja nicht gerade. Inhaltlich hat man sich in den letzten Jahren ja nun nicht gerade aufeinander zubewegt. Wie geht man damit um, gerade wenn man solche Eskapaden wie die Duldung von AfD-Stimmen für einen Abstimmungserfolg im Hinterkopf hat?
Ich stimme der Beschreibung erst einmal zu, dass die CDU sich nach rechts von uns entfernt hat. Ich glaube, dass es die CDU von Ruprecht Polenz und Karl-Josef Laumann, diesen Flügel, so nicht mehr gibt. Wenn man zum Beispiel hört, wie eindeutig Polenz sich entgegen der Parteimeinung zur Richterwahl geäußert hat, ist das schon relativ eindeutig. Das ist für uns bedauerlich, weil damit die Beschreibung richtig ist, dass dieser Teil der CDU weggebrochen ist und nicht wieder neu aufgefüllt worden ist. Das macht es für Gespräche schwieriger.
Klingt düster …
Es ist dieses Absolute, mit dem viele Leute in der Politik unterwegs sind und nur noch ihre 100% sehen, die sie durchbekommen wollen. Ich sage immer gerne: „Nicht mal in einer Ehe bist 100% der Meinung deiner Frau. In der Politik ist das auch so. Die Fähigkeit zum Kompromiss ist unabdingbar für eine funktionierende Demokratie. Leider ist diese Fähigkeit ein Stück weit abhanden gekommen.
Wird nicht besser …
Ja, für mich auch eine Frage von Charakter. Ich glaube, auch der kommt immer mehr abhanden. Beschränken wir uns einfach darauf: Was können wir und wie können wir unser Land voranbringen? Da gibt es eine schöne Formel für das Grundsätzliche und Machbare: Nicht das Grundsätzliche, sondern das Machbare und Mögliche erreichen, ohne das Grundsätzliche aus den Augen zu verlieren. Und wenn man mit diesem Prinzip in der Politik ist, dann findet das auch, glaube ich, eine positive Resonanz in der Gesellschaft!
Wie ist es jetzt aktuell, hat sich alles eingependelt? Ich meine, die Skandale werden ja irgendwie nicht weniger …
Erst einmal ist ja jeder für seinen Bereich verantwortlich, nicht jeder kann alles machen. Ich bin für den Bereich Außenpolitik zuständig und kann sagen, dass alles funktioniert. Mit dem Außenminister zum Beispiel. Ich sage ihm die Sachen und er sagt mir Sachen und wir arbeiten da einfach professionell miteinander. Das kann die Bevölkerung von Politikerinnen und Politikern aber auch erwarten: Wenn sie in einer Koalition sind, haben sie professionell miteinander zu arbeiten! Sonst braucht man doch keine Koalition zu machen, und wir haben uns doch zum Wohle unseres Landes zu verhalten. Ich bin ja als Politiker nicht verantwortlich dafür, nur meine eigenen Ideen umzusetzen.
Das klingt angemessen optimistisch! Also ist es tatsächlich von Konstruktivität geprägt?
Also, wer mit mir zusammenarbeitet, der sollte sich vornehmen, das möglichst konstruktiv zu tun.
Sonst wird es auch schwierig, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich glaube, dass ich doch ein wenig politisch erfahren bin und genau weiß, wenn mich da einer versucht, über den Tisch zu ziehen. Wenn es doch so ist, sage ich das auch und spreche es an.
Wenn ich richtig las, hast du einen „neuen Job“ im Bundestag und bist kommunalpolitischer Sprecher deiner Fraktion? Wie kam es dazu? Deine Schwerpunkte waren ja vorher andere.
Naja, was heißt „vorher andere“? Ich bin ja seit über 31 Jahren Kommunalpolitiker und habe das quasi von der Pike auf gelernt. Ich weiß noch, dass wir in Neuenkirchen, wo ich aufgewachsen bin und jetzt mit meiner Familie noch wohne, damals kein Jugendzentrum hatten, und ich wollte unbedingt, dass wir ein Jugendzentrum haben. Und deswegen haben wir die Jusos gegründet, die Jugendorganisation der SPD, und haben uns dafür eingesetzt. Das Jugendzentrum gibt es bis heute, aber es hat fünf Jahre gedauert, ehe es überhaupt kam. Das war also das erste, was ich gelernt habe.

Leider ist die Fähigkeit für Kompromisse manchmal abhanden gekommen
Also bist du eigentlich nur wieder zu deinen Wurzeln zurückgekehrt?
Genau. Und das erste, was ich damals gelernt habe: Politik funktioniert nicht so wie das Fernsehen mit einer Fernbedienung. Wenn da ein Programm läuft, schwupp, drücke ich drauf und dann ist das Programm da, wie ich es haben will. Sondern eher wie das Bohren dicker Bretter. Das Abwägen unterschiedlicher Argumente ist, glaube ich, eine Aufgabe, die in der Politik nicht zu unterschätzen ist. Das habe ich in der Kommunalpolitik tatsächlich von der Pike auf gelernt. Und meine Motivation war damals bis heute relativ klar, warum ich Politik mache. Es ist nichts schlimmer, als vor einem Haus zu stehen und mit ausgestreckten Zeigefingern immer zu kritisieren, was in diesem Haus passiert. Wenn ich etwas verändern will, wenn ich etwas bewegen will, wenn ich etwas bewirken will, dann muss ich rein ins Haus, für meine Argumente werben und vor allem in einer Demokratie bei Wahlen Mehrheiten bekommen, um sie dann umzusetzen.
Beansprucht dich das in Gänze, oder hast du noch andere Ämter „ergattert“?
Ich bin kommunalpolitischer Sprecher und Beauftragter für Afrika. Dann bin ich auch noch mit einem Superergebnis in den Fraktionsvorstand gewählt worden. Darüber freue ich mich riesig, weil das natürlich von meinen Kolleginnen und Kollegen ein absolut riesiger Vertrauensbeweis ist. Das hatte ich auch so nicht erwartet. Vorsitzender des Landesparteirats der NRW-SPD bin ich auch. Das ist nach außen vielleicht keine wichtige Aufgabe, aber innerparteilich schon. Auch da bin ich mit großer Mehrheit gewählt worden, aber das ist auch alles flüchtig, man muss gute Arbeit leisten, sonst funktioniert das nicht, sonst bleibt man auch nicht.
Was sind als kommunalpolitischer Sprecher deine Schwerpunkte?
Kommunalpolitik ist ja so eine Querschnittsaufgabe. Wir haben zwar auch einen Ausschuss im Bundestag, dem ich auch angehöre, der heißt Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunales, aber trotzdem ist damit ja nicht alles abgedeckt. Das Thema Migration hat beispielsweise auch viel mit den Kommunen zu tun. Man kann eigentlich sagen, dass das, was irgendwie in Berlin beschlossen wird, immer irgendwo eine Auswirkung vor Ort hat. Sich darum zu kümmern, im Prinzip ein kommunales Frühwarnsystem zu entwickeln, das sehr viel frühzeitiger als bisher die Belange der Kommunen auf die Tagesordnung bringt, nicht erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Das ist mein Anliegen und ich bin ja auch Sprecher der SPD Münsterland, kenne mich also auch nicht nur im Kreis Steinfurt aus, sondern auch im Münsterland.
Afrika bleibt aber für dich auch noch aktuell?
Ja klar, ich bin ja weiterhin Beauftragter der Fraktion für Afrika und auch im Auswärtigen Ausschuss. Ich fliege auch bald mit der Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder nach Afrika.
Wir unterhielten uns ja schon vor einiger Zeit über das Thema Afrika. Wie ist die Lage denn aktuell, oder ist es immer noch das große Pulverfass von damals?
Es existieren natürlich weiterhin viele Autokratien in Afrika, wenn man es genau nimmt, in fast jedem zweiten Land. Es gibt natürlich auch einige Demokratien, die es zu stärken gilt. Der größte Konflikt und eigentlich so ein fast vergessener Konflikt ist zurzeit Südsudan. Dort sterben jeden Tag unwahrscheinlich viele Menschen. Und das, weil zwei, ich sage mal, Männer generell gegeneinander Krieg führen um Macht, und das ist eigentlich die größte Katastrophe gemessen an den Opfern auf der Welt. Nur hier redet keiner mehr darüber.
Hat sich die Situation denn dort verbessert?
Der Konflikt ist, was die Ernährungssituation betrifft, sogar noch schwieriger geworden. Wenn man jetzt mal in Ostafrika genau hinsieht, dann ist da ja nicht nur der Sudan, sondern da gehören ja auch Äthiopien und Eritrea dazu. Dort gibt es auch Konflikte, die immer wieder auftauchen. Das ist schon eine Region mit sehr viel Spannung und mit sehr vielen Konflikten. Wir sollten alles tun, also nicht nur Deutschland, sondern auch Europa, um zu versuchen, dass Kriege nicht entstehen.
Das sagt sich so leicht!
Einen Krieg zu beginnen, ist relativ einfach, da gibt einer einen Befehl. Frieden zu schaffen ist meistens kompliziert und eben nicht so ganz einfach wieder hinzubekommen.
Denke, das kann man als Schlusswort stehen lassen! Danke für das nette Gespräch, Jürgen.
Jürgen Coße wurde 1969 in Neuenkirchen im Kreis Steinfurt geboren. Nach seiner Ausbildung arbeitete er zunächst als Arbeitsvermittler beim Jobcenter. Später widmete er sein Leben aber komplett der Politik. Er ist Mitglied des Deutschen Bundestages und dort im Fraktionsvorstand seiner Partei. Er ist ebenfalls kommunalpolitischer Sprecher und Beauftragter für Afrika seiner Fraktion.
Illustration Thorsten Kambach / Fotos Stephan Günther


