
Chiara Kucharski besucht Jörg Rostek im „Grünen Weiler“ in Gievenbeck
GUT DING BRAUCHT „WEILER“ – GENOSSENSCHAFTLICHES WOHNPROJEKT IN GIEVENBECK
In Gievenbeck tut sich eine Menge. Der ohnehin schon große Stadtteil wächst und wächst, neue Viertel und Straßennamen entstehen. Im Frühjahr fand die Einweihung des „Grünen Weilers“ im Oxford-Quartier statt. Wie das Modell in Gievenbeck funktioniert, sich finanziert und wie es sich dort lebt, davon hat sich Chiara Kucharski ein Bild gemacht und mit Jörg Rostek, einem der etwa 250 Bewohner, über das neue gemeinschaftliche Wohnen und dessen Besonderheiten gesprochen.
Wohnraum in Münster ist heiß begehrt. Wie wurdet ihr frühzeitig auf dieses Wohnprojekt in Gievenbeck aufmerksam?
Meine Partnerin Leandra hat das Projekt von Anfang an verfolgt. Wir beide sind in der Stadt gut vernetzt. Sie war Geschäftsführerin eines Nachhaltigkeitsnetzwerks und ich bin „Grüner“. Wenn man dann noch versucht, nachhaltig zu leben, hat man für solche Projekte einen Blick. Gerade wenn ein Projekt lange braucht, bis es Realität wird.
Wie habt ihr vorher gelebt?
Wir haben vorher in Albachten in einer Hausgemeinschaft zur Miete gewohnt. Der Vermieter hatte angedeutet, dass er die Räumlichkeiten, sobald er in Rente geht, für sich benötigen wird. So wussten wir, wir müssen uns jetzt irgendwie kümmern.
Das kann man in Münster nicht früh genug tun.
Genau. Wenn man dann noch ein Kind hat oder einen möglichst ökologischen und sozialen Anspruch hat, dann … landet man hier im „Grünen Weiler“.
Die Wohnungen waren wahrscheinlich schnell vergeben.
Das stimmt. Es gibt einen Wartepool. Dabei muss man wissen, dass die Leute, die bereits hier wohnen und einen Wohnungswechsel innerhalb der drei Wohngebäude anstreben, dann Vorrang haben. So wie ich es verstanden habe, ist es unabhängig von dem Zeitpunkt, zu dem man sich bewirbt, denn die Art des Bedarfes und die Lebensumstände der Bewerbenden sind viel entscheidender. Am Ende ist die Durchmischung der Bewohnerschaft wichtig.
Wovon hängt es ab?
Eine alleinerziehende Mutter mit zwei oder drei Kindern hat hier eine größere Chance eine Wohnung zu finden, als das klassische Paar mit einem Kind, das schon länger wartet
Die, die auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten hätten, etwas zu finden, werden bevorzugt.
Es gibt eine Belegungskommission und ein Punktesystem. Die Genossenschaft und das Zusammenleben sind selbst organisiert. Soziale Gerechtigkeit und die Tatsache, dass die unterschiedlichen Perspektiven hier Anklang finden, sind den Menschen hier besonders wichtig. Wenn du ein bisschen hier verweilst, wirst du es sehen. Auch leben hier richtig viele Kinder. Auf rund 200 Erwachsene kommen schätzungsweise 60 Kinder, das ist eine Menge.
Die Gebäudekomplexe wirken wie ein geschützter Rahmen, wie ein Mini-Dorf.
Die Kinder haben hier große Freiheit, laufen herum und wenn ich Mittagessen koche, kann es sein, dass ich vier Kinder, statt nur meinem eigenen Kind, hier sitzen habe, die mitessen wollen.
Ungeplant?
Ungeplant. (lacht) Weil mein Kleiner denkt, es sei gut, sie einzuladen, da hat er ja auch recht. Dann fragt eben jemand bei den Eltern nach, ob das so passt und so ist alles sehr gemeinschaftlich. Wir sind stets in Kommunikation miteinander, weil es immer etwas abzustimmen gibt und die Architektur so zugeschnitten ist, dass man sich trifft. Wir hätten uns gar nicht verpassen können, als du gerade hier ankamst.

Die Kinder hier haben eine große Freiheit.
Wie sieht die genossenschaftliche Organisation aus?
In unserer Genossenschaft sitzt man als Anteilseigner*in. In den Sitzungen wird diskutiert und informiert, wenn zum Beispiel ein zweiter Weiler in Planung ist. Oder es wird über die finanzielle Lage berichtet. Das Gesamtvolumen des Grünen Weilers beträgt knapp 50 Millionen Euro. Das muss auch finanziert beziehungsweise abbezahlt werden, weil es unter anderem kreditbasiert ist.
Aus welchen Komponenten setzt sich die Finanzierung zusammen?
Zehn Millionen Euro haben die Mitglieder der Genossenschaft als Eigenkapital, über Genossenschaftsanteile und Mitgliederdarlehen, eingebracht. Rund 50 Prozent der Wohnungen sind öffentlich gefördert, ein wichtiger Baustein ist also die öffentliche Wohnraumförderung. Der Rest wurde über Bankkredite finanziert.
Für die gemeinschaftliche Organisation gibt es Plena und Ausschüsse?
Was das Gemeinschaftsleben angeht, kann man innerhalb der Hausgemeinschaft Interessensgemeinschaften und Untergruppen gründen, um beispielsweise gemeinsam zu nähen oder zu spielen oder was einem sonst noch einfällt. Es gibt Projektgruppen, die in der Genossenschaft angesiedelt sind. Ich war in der Projektgruppe „Feste und Feiern“, wir organisieren die Partys, wie auch schon die Einweihungsfeier des Weilers im Juli, bei der mit 3000 Menschen dreimal so viele Leute kamen, wie gedacht.
Müssen sich alle mit persönlichem Engagement einbringen oder könnte auch jemand einziehen, der einfach eine Wohnung braucht?
Das würde gehen, aber ich denke, der Funke würde irgendwann überspringen. Die Idee, eine Insel zu sein, ist nicht realistisch und widerspricht meiner Erfahrung nach der menschlichen Natur. Das ist vielleicht eine Sehnsucht, für sich zu sein, aber wir sind trotzdem nicht nur von Grund auf geprägt von anderen, sondern müssen uns als Bestandteil unseres Lebens mit anderen auseinandersetzen. Wenn man hier etwas starten möchte, einen Buchclub gründen will, dann geht das. Allein diese Möglichkeit führt dazu, dass Menschen das auch tun wollen.
Gibt es noch deinen legendären Literaturabend „Literatur22“? (Anm. d. Red.: Literaturtreffen an jedem 22. im Monat)
Leider nicht. Das habe ich, seitdem ich Kreisverbandssprecher der Grünen in Münster bin, aufgegeben. Abgesehen davon gibt es die Bäckerei, in der der Literaturabend stattfand, leider auch nicht mehr. Hier im Weiler kann ich es mir gut vorstellen. Zu Literatur22 konnten alle, die wollten, ihre Lieblingstexte und Bücher mitbringen und daraus vorlesen. Das war wie ein literarisches Überraschungsei und hat auch mal heftige Diskussionen verursacht. Literaturbegeisterte Menschen können sehr leidenschaftlich sein.
Ach ja?
Nicht nur bei Grundsatzfragen, was eigentlich Literatur ist. Auch darüber, was lesenswert und geeignet ist, in so eine Runde mitzubringen. Es gab Leute, die auch mal provozieren wollten. Das ist etwas anderes, als wenn immer dieselben sieben Leute kommen. Ja, ich denke, das wäre auch im Weiler möglich.
Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in eurem Projekt?
Eine sehr große. Es gibt meines Wissens keine Maßstäbe, die erfüllt werden müssen. Aber was ich hier mitbekomme, ist auf sehr unterschiedlichen Ebenen nachhaltig. Von der Architektur bis zum Weiler-Garten, bis hin zur Frage der Mobilität vor Ort und vieles mehr, ist fast alles auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung ausgerichtet. Nicht nur, dass es viel Grün gibt und dass alles Wildpflanzensamen aus der Region sind, die gesät wurden. Es gibt auch Leute, die darauf achten, dass es nicht nur schön, sondern auch ökologisch sinnvoll ist.
Inwiefern?
Das sieht man an den Decken in den Wohnungen, die sind nicht abschließend behandelt. Man sieht es am Boden, der nicht „tot-geölt“ ist. Das merkt man an den Materialien und an den Solarzellen auf dem Dach und eine Wärmepumpe gibt es auch. Es gibt ein Wasserauffangbecken, das die Wasserversorgung ergänzt. Dadurch, dass es Gemeinschaftsräume, wie einen Waschsalon gibt, braucht nicht jeder eine eigene Waschmaschine. Vor allem ist es aber auch der geringe Flächenverbrauch. Wenn es diese Art der Wohnprojekte in Münster häufiger gäbe …

Es gab Leute, die auch mal provozieren wollten.
Ja?
Dass Leute ihre großen Wohnungen aufgeben, insbesondere Ältere. Ein älterer Mensch hat gefühlt dreimal mehr Quadratmeter als jemand, der 20 ist. Es würde mich nicht wundern, wenn eine Person über 50 Jahre im Schnitt auf mehr als 120 Quadratmeter lebt.
Wobei das, wenn es so wäre, sicherlich situationsbedingt weniger wird. Oft genug müssen Leute aus finanziellen Gründen untervermieten oder andere Lösungen finden.
Es sei denn, es ist Eigentum. Dann ziehen die Kinder aus, der Partner stirbt. Du lebst noch zehn Jahre dort im Alter allein, hast einen großen Garten und sehr viel Arbeit. Dann sind Leute aber trotzdem nicht bereit zu tauschen. Das kann ich auch verstehen, es gibt dort viele schöne Erinnerungen, man hat dort viel Zeit und Arbeit seines Lebens hineingesteckt und weiß dann nicht, was man dafür bekommt.
Der emotionale Wert, Sicherheit und Schutzbedürftigkeit spielen sicherlich eine Rolle. Man möchte im Alter etwas haben, das man kennt.
Genau. Aber dann gibt es so ein Projekt, wie dieses. Da kann man sagen, man möchte nicht allein sein, man möchte Kinder um sich haben und man möchte in einer Gemeinschaft leben und nicht erst in einer Woche gefunden werde, wenn mal etwas passiert. Wenn sich so etwas wie hier durchsetzen würde, wäre die allgemeine Wohnraum-Misere deutschlandweit gelöst. Das Versiegelungsproblem wäre gelöst. Das Ernährungssystem wäre gelöst. Alle Debatten über Einsamkeit wären gelöst.
…
Wir könnten sogar unter sicherheitstechnischen Bedingungen, sollte es zum Beispiel zu einem Krieg kommen, viel besser aufeinander aufpassen. Man weiß viel eher, wer wo wohnt und mit welchen Problemen. Wer müsste betreut werden, wenn der Strom ausfällt? Wenn die Wasserversorgung schlecht wäre. Es gibt so viele Aspekte, die gelöst werden würden, dass ich es fast als fahrlässig erachte, es nicht zu tun.
Ist schon ein zweiter Weiler in Planung?
Ja, die Genossenschaft wächst und es gibt eine Gruppe, die sich Gedanken über ein zweites Projekt macht. Man braucht ein Grundstück, man braucht die Bereitschaft von jemandem, das herzugeben. Du musst die Finanzierung stemmen und man muss die Banken, die Kommunen beziehungsweise die öffentliche Hand überzeugen, dass alle etwas dazugeben.
Das Eigentum und das Eigenkapital müssen erstmal da sein. Es gibt immer mehr Leute, die monatlich nichts haben, das sie zurücklegen könnten.
Genau. Voll. Stichwort: Rente. Es gibt auch eine große Anzahl an hier geförderten Wohnungen, die man nur mit Wohnberechtigungsschein beziehen kann. Hier gibt es WGs, genauso wie pflegebedürftige Menschen.
Was würdest du Neueinsteigern raten, die mit dieser Form des Wohnens liebäugeln?
Kommt vorbei, schaut es euch an. Meldet euch an und bringt euch einfach ein. Gemeinschaften muss man erfahren. Dann bekommt man einen anderen Blick und kann entscheiden, ob das etwas für einen ist oder nicht. Dann braucht man vor allem Geduld und Ausdauer. Das würde ich schon sagen. Wir hatten hiermit vorher bestimmt zwei Jahre zu tun, bevor wir eingezogen sind.
Danke für diese Einblicke.
Jörg Rostek
Jörg Rostek, geboren in Buchen, aufgewachsen in Walldürn im Odenwald. Seit 2004 lebt er in Münster, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Wirtschaftspolitik an der Universität Münster. Seit Juni 2021 ist er u.a. Sprecher des Kreisverbandes Münster von Bündnis 90/Die Grünen. Seit März 2025 lebt er mit Partnerin und Kind in Münster-Gievenbeck.
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Jörg Rostek / Chiara Kucharski


