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2022-11-07 Stadtgeflüster Illustration Ekki kurz.tif

Tom Feuerstacke, Henri Mengler und Sinan Taneri radeln verbal ein Stück

OHNE SINN, ABER MIT VERSTAND AUF ZWEI RÄDERN

Eines der geilsten Dinge mit dem Erreichen der Volljährigkeit und dem sehnlichst erwarteten Ende der Schule war das Interrail-Ticket. Das war in den Achtzigern. Einfach weg von zu Hause und ab durch Europa. Menschen kennenlernen, andere Länder sehen und die erste große Freiheit erleben und genießen. Knapp 35 Jahre später wird immer noch durch Europa getourt. Allerdings nicht mit der Bahn. Zwei Jungs haben sich aufgemacht, die neu erlangte Freiheit per Muskelkraft im Sattel zu genießen und sich von Tag zu Tag treiben zu lassen.

Moin Sinan und Henri. Danke, dass ihr euch auf euerer Tour durch Europa kurz Zeit nehmt. Wo erwische ich euch gerade?


Sinan: Wir sind circa 100 Kilometer nördlich von Lissabon entfernt. Genau gesagt ruhen wir auf einem Campingplatz in Nazaré. Der Ort ist vor allem bei Surfern beliebt. Wellen von bis zu 20 Metern türmen sich hier auf. Allerdings ist es im Moment eher ruhiger auf dem Wasser. Ab November soll es wieder heftiger werden.


Lissabon ist für euch das Ende der Reise auf zwei Rädern durch Europa?


Sinan: Für mich schon. Ich werde danach weiter zu meiner Familie nach Zypern reisen.

Henri: Ich wollte noch nach Lagos an die Algarve, um die 4000-Kilometer-Marke zu knacken.


Sinan, du steigst aus vor dem großen Ziel?


Sinan: Es war schon länger geplant, dass ich zu meiner Familie stoße. So früh war das allerdings nicht vorgesehen. Bei mir am Fahrrad ist ein Teil gebrochen. Es wurde geschweißt. Ist noch mal gebrochen. Es war jetzt noch mal ein Schweißer an dem Schaden. Ich bin froh, wenn ich mit dem Fahrrad bis nach Lissabon komme. Das Risiko, damit noch bis nach Lagos zu radeln, ist mir zu groß.


Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal. Wie viele Kilometer habt ihr aktuell in den Knochen?


Sinan: So ungefähr 3700 Kilometer. Dazu kommen jetzt noch die 150 Kilometer bis nach Lissabon.

Henri: Das Ganze haben wir in 56 Tagen zurückgelegt.


Wenn ich eure Story bei Instagram verfolge, sieht alles leicht und locker aus – mit einer Menge Spaß. Was war denn auf der Tour bislang die größte Herausforderung?

Henri: Das Fahrrad von Sinan.

Sinan: Der Schaden an meinem Rad war schon sehr anstrengend. Ich habe ein Fahrrad mit Nabenschaltung. Und das kannten die in Spanien und Portugal nicht. Dementsprechend war auch kein Fahrradladen eine Hilfe. Kein Ersatzteil in Sicht. Das war eine aussichtslose Situation. Wir dachten über das Aufgeben nach. Oder ich müsste mir ein neues Fahrrad kaufen.

Henri: Die Berge waren auch nicht ohne. Sinan ist mit einer Acht-Gang-Nabenschaltung unterwegs. Da verlangt dir ein Berg alles ab.

Sinan: Im Baskenland sind ordentlich Hügel. Da fährt man fast durch ganz Nordspanien ständig auf Meeresspiegelniveau und Anstiegen auf 400 Meter und zwischendurch sogar auf 800 Metern. Eine ordentliche Menge an Höhenmetern wird dabei abgerissen.


Wie kommt man darauf, eine solche Herausforderung mit einer Acht-Gang-Nabenschaltung anzugehen. Ihr habt Caps auf wie die Profis im Radsport. War es am Ende mangelnde Vorbereitung?


Sinan (lacht): Es war insofern mangelnde Vorbereitung, da ich nicht damit gerechnet habe, dass es in Nordspanien so hügelig ist. Allerdings hatte ich auch keine Lust, mir ein anderes Fahrrad zu kaufen. Wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre vermutlich der Kauf eines weiteren Fahrrads nötig gewesen. Aber ich dachte: „Jetzt hast du halt dieses Rad und auf gehts“.

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Portugal, Meer, Brandung, Natur pur

Henri, wie ist die Idee entstanden, miteinander per Pedale von Münster nach Lissabon und als Bonus nach Lagos zu fahren?

Henri: Ursprünglich hatte ich die Idee, alleine nach Portugal zu fahren. Mein Bruder kam dazu und wollte bis Paris mitfahren, sodass wir bis dahin zu dritt gefahren sind. Ich hatte keine Lust auf Interrail, wollte aber durch Europa reisen. Sinan und ich sind bereits seit dem ersten Schuljahr befreundet. Er fragte mich, was ich nach dem Abitur machen wollte. Ich erzählte ihm von meiner Idee. Da er auch noch nichts vor hatte – nach dem Abi –, ist er auch aufs Rad gestiegen, sodass wir drei die Tour gemeinsam gestartet haben.


Jetzt liegt Lissabon nicht gerade um die Ecke und wird von deutschen Touristen hauptsächlich mit dem Flieger angesteuert. Knapp 4000 Kilometer sind nicht ohne. Wir lange habt ihr euch auf die Reise vorbereitet?

Henri: (lacht): Das Fahrrad selber habe ich vor einem Jahr gekauft. Wir haben etwas zusammengesessen, rumgesponnen und die Route angeschaut.

Sinan: (lacht): Ehrlich, Tom. Wir haben uns zwei Nachmittage getroffen und hatten große Vorfreude. Hinzu kam die Besorgung des Equipments. Also einen Nachmittag haben wir mit unseren Eltern gequatscht und die Packliste geschrieben und einen Nachmittag haben wir das gepackt, was wir gekauft hatten für die Tour.

Henri: Ich hatte noch eine Probe-Tour über 400 Kilometer gefahren. Aber richtig trainiert haben wir nicht.

Sinan: Mein Opa fragte mich nach dem Sinn der Tour. Ich hatte damals keine direkte Antwort. Jetzt kenne ich sie. Es gibt nur den Sinn, frei zu sein. Sich treiben zu lassen. Einen wirklich tieferen Sinn gibt es nicht. Wir wissen morgens nicht, wo wir abends schlafen werden. Wir sorgen nur dafür, dass wir abends Wasser haben und schlafen irgendwo.


Wann gab es den Punkt, dass ihr so kraftlos wart, dass ihr zurück nach Münster wolltet? So wie ich eure Vorbereitung verstanden habe, war es kurz hinter Mecklenbeck?


Henri (lacht): Die ersten Kilometer gingen in der Euphorie erst mal ganz leicht. Die Motivation war hoch. Selbst in Nordspanien, wo das Fahren wirklich anstrengend war, hatte man die Kraft, immer weiter zu fahren.

Sinan: Wirklich anstrengend fand ich es am zweiten Tag. Nach gut 100 Kilometern hatte uns ein Campingplatz abgewiesen, weil er ausgebucht war. Wir mussten über 30 Kilometer weiterfahren, um einen Platz für die Nacht zu bekommen. Das nur mit unserer Grundfitness. Aber diese Anstrengung reichte nicht, um aufzugeben. Es ging eine Stunde weiter.


Jungs. Es muss doch was geben, wo ihr an eure Grenzen geht. Die wirkliche Herausforderung bei dieser Tour, die es zwischendurch schwer macht, weiterzufahren?


Sinan: Zwei Monate Zelten und vom Campingkocher leben ist für mich und ich denke für viele auf einer solchen Tour wirklich anstrengend. Wobei die Fahrerei bei 32 Grad Celsius ist auch nicht zu verachten. Vor der Tour wusste ich nicht, ob ich damit glücklich werde.

Henri (lacht): Für mich ist das frühe Aufstehen die größte Herausforderung. Okay. Vier bis fünf Stunden bei der Hitze im Sattel ist auch nicht ohne.


Wie viele Kilos habt ihr während der Tour verloren?


Henri: Das wissen wir nicht und das ist auch gut so. Vom Gefühl her habe ich trotz der großen Mengen, die wir essen, abgenommen. Aber körperlich krass abgebaut habe ich nicht.

Sinan: Auf dem ersten Teil der Tour zu dritt nach Paris haben wir nicht genug gegessen. Das haben wir deutlich gespürt. Jetzt essen wir zu zweit täglich 500 Gramm Nudeln mit Tomatensoße. Für mich ist es die doppelte Menge an Essen als sonst. Und wir nehmen dabei nicht ab oder zu.


Ich verfolge eure Tour auf Instagram und sehe, dass ihr häufig da schlaft, wo ihr vom Sattel steigt. Also wildes Campen. Durchaus eine riskante Situation. Warum geht ihr diese Gefahr ein, erwischt zu werden?


Henri: Von Münster nach Lissabon zu reisen ist auf diese Weise am günstigsten. Jede Nacht auf einem Campingplatz macht die Tour deutlich teurer. Da ist das Campen am Fluss im Wald eine billige Alternative. Zweimal haben wir Leute auf der Straße angesprochen, ob wir auf deren Hof zelten dürfen und wurden dabei höflich aufgenommen – mit leckerem Essen.

Sinan: Es ist ein Zwiespalt. Wir hatten bei den beiden Malen keinen Campingplatz gefunden. Wild Campen ging auch nicht. Also haben wir gefragt. Wir haben aber nie gewusst, ob die Gastgeber uns aufnehmen, weil sie sich verpflichtet fühlen oder es wirklich wollen. Dieser Zwiespalt hat dazu geführt, dass wir davon nur zweimal Gebrauch gemacht haben. Sonst waren primär wildes Zelten und ab und an der Campingplatz unsere Schlafplätze.

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Ohne Navi bist du in dieser Gegend verloren

Ihr seid mit euren Fahrrädern in eine Autorally geraten. Nicht schlecht, bedenkt man, wie der Kräfteunterschied so ist. Habt ihr Absperrungen nicht beachtet?


Sinan: Wir standen vor Absperrungen in einem französischen Ort und eine Frau erklärte uns, dass hier eine Rally stattfindet. Sie zeigte uns die Streckenkarte. Ich fotografierte die ab und wir fuhren weiter. Und kurze Zeit später standen wir mit unseren Fahrrädern mitten im Rennen und Autos düsten vor uns her und um uns herum.

Henri: Die Strecke war so pomadig abgesperrt, dass selbst ein Auto mit einer Familie in die Rally geriet. Echt kein Plan, was sich die Veranstalter dabei gedacht hatten.


Ihr habt ja nun einen Vergleich. Wo war es als Radfahrer am besten zu fahren. Wo habt ihr euch am sichersten und am wohlsten gefühlt, wenn ihr eure Kilometer abgerissen habt?


Henri: In Belgien. Die haben so richtige Fahrradwege überall. Die sind so wie Autobahnen für Rennräder. Wir haben uns gefragt, ob man da nur mit einer Mindestgeschwindigkeit fahren darf. Man hatte vor allem nie Kontakt zum übrigen Verkehr. Selbst in den Baustellen der Städte wurde man mit dem Fahrrad durch Containertunnel um die Baustelle geleitet.

Sinan: Diese bauliche Trennung von Auto und Fahrrad war schon was richtig Gutes. Hinzu kommt die Beschilderung der Strecken. Man kam problemlos von einem Ort zum anderen. Während hier in Portugal und Spanien die Beschilderungen nur für Wanderer des Jakobsweges da sind. Als Radfahrer bist du gänzlich auf dein Navi angewiesen, um an das Ziel zu gelangen.

Ihr seid nun eine ganze Weile unterwegs, habt eine Menge Menschen kennengelernt und unglaublich viel gesehen. Ihr könnt euch treiben lassen und am Ende das tun, was ihr wollt. Ein großes Stück Freiheit. Was war bislang das Highlight eurer Tour?

Henri: Für mich war es die Familie, die uns in Frankreich aufgenommen hat. Außer Sinan, der etwas französisch spricht, beschränkte sich mein Wortschatz auf Merci und oui. Diese Familie war unglaublich gastfreundlich und hat uns total umsorgt. Das war schon so wie zu Hause. Man konnte für einen kurzen Moment die Beine hochlegen und sich wirklich erholen.

Sinan: Für mich war es der Grenzübertritt zwischen Frankreich und Spanien im Baskenland. Auf der französischen Seite waren lange Strände und Pinienwälder der Ausblick. Auf der spanischen Seite standen wir auf saftigen Weiden und schauten vom Berg auf das Meer. Etwas so wie im Allgäu. Einmal über die Grenze und „Zack“ die Natur hatte sich verändert innerhalb eines Tages.

Letzte Frage. Habt ihr euch schon gestritten?

Henri (lacht): Nö.

Sinan (lacht): Diskutiert. So wie immer.

Jungs, passt auf euch auf und kommt gesund wieder.

Sinan Taneri und Henri Mengler
Die beiden 18-jährigen Freunde aus Münster kenne sich seit ihrer Grundschulzeit. Beide liegen in ihren Geburtstagen drei Tage auseinander. Was soll man nach dem Abitur anderes machen, als gemeinsam auf den Sattel steigen und durch Europa reisen? Mittlerweile sind sie in Portugal.



www.instagram.com/europebybike2022/

Autor Tom Feuerstacke / Illustration Thorsten Kambach / Fotos Henri Mengler und Sinan Taneri

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