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2022-11-07 Stadtgeflüster Illustration Ekki kurz.tif

Peter Sauer spricht mit Henning Stoffers über Schwarzpulver, Hexenverfolgung und Sternschnuppen

WARUM IST DAS SO UND NICHT ANDERS?

Die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben: Man muss sie nur kennen oder ausgraben, einordnen und vor allem richtig gut erzählen und bebildern können. All diese Talente besitzt Henning Stoffers aus Kinderhaus. Am 28. Januar wird Münsters bekanntester Chronist, Fotohistoriker und Storyteller 80 Jahre jung. In vielen Büchern, Lichtbildvorträgen und nicht zuletzt auf seinen Internetportalen erschließt er seinen Lesern spannende Themen rund um die Stadt, ihre Menschen und ihre Geschichte(n). Und Stoffers hat noch viel vor.

Du erzählst Geschichten wie kein Zweiter. Wie kamst Du zum Erzählen?


Den Grundstein hat meine Großmutter Helene gelegt. Sie hat mir als Kind zum Beispiel Märchen und auch die Geschichte von „Max und Moritz“ vorgelesen. Letztere konnte ich auswendig aufsagen.

Hast Du später als Vater auch Deinen Kindern Geschichten erzählt?

Als sie klein waren, habe ich ihnen Fantasiegeschichten am Bett erzählt. Das waren so Märchen aus dem Stegreif. Sie fingen immer mit dem gleichen Satz an: „Eines Morgens wachte das Rehkitzchen auf“. Und sie endeten immer gleich: „Das Rehkitzchen kam nach Hause, wo die Mutter schon wartete.“


Warum ein Rehkitzchen?


Für mich war das Rehkitzchen das passende Synonym für ein kleines verletzliches Menschlein, das die große Welt erkundet.


Du bist sehr kommunikativ. Wo hast Du das gelernt?


Nicht in der Schule. Ich bin ausgebildeter Bankkaufmann. Mein Chef bei der Landesbank setzte großes Vertrauen in mich und holte mich in seinen Leitungsstab. Er förderte mich und gab mir die Möglichkeiten und die Freiheiten, mich zu entwickeln. Ich kümmerte mich um Kommunikation und den Außenauftritt des Bereiches. Ich hatte den Schriftverkehr weiter entwickelt und mich schon in den 1980er Jahren um Corporate Design und Corporate Identity gekümmert, als diese Begriffe noch gar nicht so richtig in Mode waren. Ich legte meine Scheu ab, vor einer größeren Anzahl von Menschen zu sprechen.


Wie wurdest Du dann der Stadtchronist, den wir kennen und schätzen?


Mit Anfang 60 – das Arbeitsende war absehbar – hielt ich nach neuen Aufgaben Ausschau. Da habe ich eine Fotografie im Internet gefunden und für ein paar Euro gekauft. Sie war von 1937 und zeigte das Gau-Haus am Aasee. Heute findet man in dem Gebäude die Mensa am Aasee. Vor dem mächtigen Haus mit Hakenkreuz und Reichsadler parkten 1937 Limousinen und links davor, wo das Rondell am Aasee ist, waren Frauen mit ihren kleinen Kindern, auf den Bänken saßen die Großeltern, eine Szene des damaligen Alltags. Der neue Aasee war gerade erst drei Jahre alt. Idyllisch. Und im Hintergrund stand das Gau-Haus, in dem Gauleiter Dr. Alfred Meyer, der auch bei der Wannseekonferenz dabei war, seine grauenhaften Geschäfte abwickelte. Mich hat diese Gesamtsituation vereinnahmt. Das zivile friedliche Leben am Aasee und dahinter das Gebäude der Inkarnation des Bösen.


Dieses Foto einer Alltagsgeschichte in dunklen Zeiten war für Dich ein Auslöser?


Ja, um immer mehr Fotos, Ansichtskarten und Bücher zu kaufen, über Münster im Wandel der Zeit. In Auktionshäusern, auf Antiquitätenmessen, auf Flohmärkten und im Internet.


Und dann hat es Dich nicht mehr losgelassen?


Meine Sammelleidenschaft hatte extreme Auswüchse. Bis meine Frau mal irgendwann fragte: Wie viel Geld hast Du eigentlich ausgegeben? Einen höheren fünfstelligen Betrag mit Sicherheit. Da habe ich mit dem Sammeln aufgehört und habe über meine Funde recherchiert und geschrieben. Dazu machte ich meine Webseite auf. Ich beschrieb die Bilder, ordnete sie ein. So entstanden mehr als 200 Bildgeschichten … Ja, mehrere Teile alleine über die Geschichte des Kinos oder der Straßenbahnen und Busse. Es waren Beiträge über Menschen, wie zum Beispiel Professor Landois, oder über Ereignisse, wie über den Besuch des Kaisers.


Aber auch Deine eigene Geschichte ist spannend. Mit neun Jahren kamst Du als Flüchtlingskind aus der DDR über Hamm-Heesen 1953 nach Münster …


Wir lebten Ecke Südstraße 100/Augustastraße in einem neu errichteten, viergeschossigen Mehrfamilienhaus. Es wurde mit Kohleöfen geheizt. Wir spielten in noch nicht beseitigten Trümmern. Das war nicht ungefährlich, wie ich auch eines Tages die Idee hatte, Schwarzpulver herzustellen.


Woher hattest Du das Wissen?


Aus Vaters Lexikon waren mir die Zutaten bekannt: Salpeter, Schwefel und die restlichen Pülverchen. Nur beim Magnesium traten Probleme auf.


Welche?


Der Drogist Dördelmann von der Hammer Straße verkaufte mir statt Magnesium das kreideähnliche Magnesia, mit dem sich Turner die Hände einreiben.


Mit welchen Folgen?


Meine Pulvermischung war nicht so schön explosiv wie gewünscht. Aber der Anblick war dennoch schön, als das Pulver in einer Libby‘s-Konservendose funkenspeiend und stinkend abbrannte.

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Meine Sammelleidenschaft hat extreme Auswüchse

Warst Du als Kind auch erfinderisch?


Ja, 1955 tüftelte ich als Elfjähriger daran, ein Radio zu bauen. Eine Germanium-Diode verband ich mit dem Dynamo meines Fahrrades, weil ich per Kopfhörer beim Radfahren Radio hören wollte.


Klappte es?


Mit ohrenbetäubendem Knattern im Kopfhörer. Das war leider kein Genuss.


Was war Dein schönstes Kindheitserlebnis?


Die Sonntagsausflüge zu Fuß in meinem schicken Dufflecoat zum Kaffeetrinken nach Vennemann in Handorf unter schattenspendenden Bäumen direkt an der Werse. Dort gab es für uns Kinder Regina-Brause oder Malzbier.


Dein Fotoapparat war immer dabei?


Den habe ich wie meinen Augapfel gehütet.


Was ist mit Deinem Elternhaus passiert?


Das Haus Südstraße 100 wurde abgerissen. Seit den 1970er Jahren ist dort der Südpark.


Du bist passionierter Radfahrer?


Ja. Ich fahre meistens mit dem Rad, mit meinem Beamer hinten drauf – auch gerne zu meinen Vorträgen.


Stimmt es, dass Du sogar Vorträge für lau anbietest?


Das habe ich lange Zeit so gemacht. Aber ich denke, ein bisschen Wertschätzung sollte schon sein.


Das heißt?


Früher bekam ich eine Flasche Wein für 3,95 € geschenkt. Jetzt sollte es so viel sein, wie ein Abendessen für meine Frau und mich kostet. Sie war nicht immer über meine häufige Abwesenheit amused.


Was ist bei Deiner Arbeit die wichtigste Leitlinie?


Was ich sehe und lese – auch zwischen den Zeilen – aufzunehmen, zu verarbeiten und so zu übertragen, dass ich es wiedergeben kann.


Auf Augenhöhe?


Das ist sehr wichtig. Und ich bin sehr neugierig. Ich stelle immer die Frage, warum ist das so, warum nicht anders?


Welche Geschichte hat Dich sehr berührt?


Da gibt es so einige, zum Beispiel die Hexenverfolgung um Greta Bünichmann 1635 in Münster. Die durch den Verrat ihres Arbeitgebers ein schreckliches Schicksal erleiden musste. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Ein dunkles Kapitel unserer Vergangenheit. Es ist nicht abwegig, den Bogen zur Jetzt-Zeit zu schlagen.


Inwiefern?


Wenn ich jetzt sehe, was in der Ukraine, im Gazastreifen und auch anderswo passiert, da ist zu erkennen: Es wiederholt sich alles. Und was für mich sehr wichtig ist, nämlich zu begreifen, dass unsere Freiheit und unser Wohlstand nicht selbstverständlich sind. Wir sollen mehr an das hohe Gut des Friedens denken und uns erinnern, wie die Zeit bei unseren Eltern und Großeltern war.


Hast Du noch Lampenfieber?


Ja, immer noch. Vor meinen Vorträgen im Schlosstheater habe ich eine Stunde vorher immer eine verstärkte Nervosität, die sich auch körperlich bemerkbar macht. Sobald aber das Licht im Saal ausgeht, ist das Lampenfieber weg. Dann ist so eine innere Ruhe in mir. Ich habe nie ein Manuskript bei mir. Ich lasse die Bilder erzählen und interpretiere sie. Was mir sehr wichtig ist, den Bezug zu heute herzustellen.


Welche Gespräche haben Dir viel gegeben?


Ich hatte eine Kriminalkommissarin, die sagte, über sie gäbe es doch nichts zu schreiben. Danach Erstaunen: Mensch, das gibt es doch nicht, was Du aus mir herausgeholt hast. Oder ein Küster, der über seine große Liebe zu einem anderen Mann erzählte. Oder der katholische Theologe Ulrich Lüke, der mir mit seinen unkonventionellen Ansichten persönlich sehr ans Herz gewachsen ist.


Was ist eigentlich Deine große Stärke?


Wenn ich Mist gebaut habe, kann ich auf den anderen wieder zugehen und mich entschuldigen.


Und was ist Deine größte Schwäche?


Zu nachgiebig zu sein. Ich kann sehr schnell verzeihen. Eigentlich eine Stärke …


Wie hat sich Münster aus Deiner Sicht in den vergangenen acht Jahrzehnten verändert?


Abgesehen von Prinzipalmarkt, Alter Fischmarkt, Stadtbücherei oder dem LWL-Museum ist Münster leider auf dem besten Wege in der Uniformität zu versinken.


Wie meinst Du das?


Wenn ich über die Steinfurter Straße oder über den Ring in die City reinfahre, dann könnte ich in jeder anderen Stadt sein – Köln, Dortmund oder Duisburg. Münsters Einzigartigkeit verschwindet. Es bildet sich Uniformität statt Individualität. Münster wird immer gesichtsloser, konformer und austauschbarer. Das gilt für meinen Stadtteil Kinderhaus ebenso wie für Handorf mit seinem ehemaligen dörflichen Charakter.


Was ist Dein Lieblingsort in Münster?


Am schönsten ist es für mich, wenn ich bei Stuhlmacher im Sommer draußen auf dem Prinzipalmarkt mit Freunden sitzen kann. Wenn dann noch die Türmerin tutet, ist es ein großes Glücksgefühl.

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Münster versinkt in der Uniformität

Welche Deiner vielen historischen Geschichten hat Dich am meisten gerührt?


Die Geschichte über den münsterschen Arzt Dr. Heinrich Bunsmann, der 1920 an der Spanischen Grippe starb, die man mit Corona vergleichen kann. Seine Enkelin hat einen Text von Bunsmanns Tochter Berti transkribiert, die als junge Frau das Sterben ihres Vaters erlebte. Dieses bewegende Zeitdokument berührt in seiner Poesie auch heute noch aufs Tiefste.


Erzähl’ mehr.


Als ich den Text das erste Mal las und ein zweites Mal, als die Schauspielerin Cornelia Kupferschmid den Text während meines Lichtbildervortrags im Schlosstheater vortrug, bekam ich eine Gänsehaut. So berührend, so menschlich, so tiefgehend. Da merkt man, dass das Mitmenschliche etwas ganz Wichtiges ist in unserem Leben.


Du bist, was Forschen, Schreiben und Vortragen betrifft, ein Rundum-Autodidakt. Was rätst Du Menschen, die, wie Du, keine Möglichkeiten haben, zu studieren?


Meine Poweransage lautet: Man muss echt sein. Authentisch. Unverfälscht. Emphatisch. Auch mal sagen: so nicht! Das mache ich bei meinen Vorträgen. Die Leute merken, es ist echt. Das kommt an.

Und Du brennst dafür. Das merkt man Deinen Texten an. Die Geschichte lebt in Dir auf …


Für mich ist immer schwierig, wie fange ich einen Text an. Wenn ich dann drin bin, kann ich nicht mehr aufhören. Man darf nicht eitel sein, sondern muss mit Herzblut dabei sein.


An das Stadtmuseum hast Du 2021 Deine Sammlung gegeben. Du wolltest aufhören …


Ja, und meiner Frau mehr Zeit schenken. Es war eine gute Entscheidung, dass die Sammlung über die Münsterländische Bank Thie an das Stadtarchiv gegangen ist.


Aber Du hast weitergemacht – neue Homepage, neue Bücher, Texte, Vorträge. Was treibt Dich weiter an?


Ich möchte nicht vor dem Fernsehen versinken. Mich reizt noch so viel. Ich möchte noch so viel schreiben. Wenn es mich juckt, dann muss ich mich kratzen. Haha. Zwei weitere Bücher kommen mindestens noch.


Über was zum Beispiel?


Zum Beispiel über Entnazifizierung in Münster in der Nachkriegszeit, oder über die Disco-Szene in Münster. Über Menschen mit lebendiger Persönlichkeit. Das sind Menschen, die ich mag und die das Leben bereichern, quer durch alle Generationen.


Was würdest Du machen, wenn Du wieder 20 wärst?


Diese schöne Zeit würde ich mit der Unbefangenheit der damaligen Zeit genießen, mit einem Cabrio oder mit dem O-Bus der Linie 2 durch Münster fahren oder in die Disco Inselcafé gehen.


Und was wünschst Du Dir?


Wir leben 70, 80, 90 Jahre, aber im Universum sind wir nichts. Wir sind ja alle nur winzige Sternschnuppen. Was ich hoffe ist, dass sich in 100 Jahren die Leute mit meiner Hinterlassenschaft beschäftigen.

Henning Stoffers
Henning Stoffers kam zwischen zwei Bombenangriffen am 28. Januar 1944 in Halle an der Saale auf die Welt. Aus der DDR flüchtete seine Familie nach Hamm-Heesen. Seit 1953 lebt er in Münster, seit über 20 Jahren in Kinderhaus. Seitdem ist seine große Leidenschaft, historische Dokumente zur Stadtgeschichte zu sammeln, erforschen und für die Nachwelt les- und erlebbar zu machen. Für dieses vorbildliche bürgerschaftliche Engagement erhielt er 2022 aus der Hand von Oberbürgermeister Markus Lewe die Münster-Nadel.

www.sto-ms.de

www.henningstoffers.de

llustration Thorsten Kambach / Fotos Peter Sauer

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