
Tom Feuerstacke und Georg Lunemann besprechen das Stadtleben
MÜNSTER IM BLICK
Münster, zwischen Kopfsteinpflaster und Campus, zwischen Radwegen und Bahnhofsvorfeld: Sicherheit, Ehrenamt, Sportvereine, soziale Brennpunkte und bezahlbarer Wohnraum. Themen, die die Stadtgesellschaft umtreiben. Georg Lunemann, tief verwurzelt in den Vierteln, redet Klartext über das, was funktioniert und das, was schiefläuft. Vom Bahnhof, wo Drogen, Obdachlose und Jugendliche aufeinandertreffen, bis zu den Sportvereinen, die kaum noch Kapazitäten für Kinder haben, spannt er den Bogen zwischen Verantwortung der Stadt und Eigeninitiative der Bürgerinnen und Bürger. Kein Politikgeplänkel, kein Schönreden, sondern ehrliche Analyse. Wie behalten wir Münster gemeinsam auf Kurs, ohne uns in Symbolpolitik zu verlieren? In diesem Gespräch geht es um konkrete Lösungen, Prioritäten und um die Frage, wie viel Stadtgesellschaft wirklich selbst bewegen kann.
Georg, wenn du im November offiziell das Büro im Innenhof des Rathauses als neuer Oberbürgermeister betreten würdest, was wäre dein erster Plan für Münster?
Der Blick aus dem Innenhof aufs Rathaus ist schon ziemlich beeindruckend. Man steht da, schaut hinauf und denkt: „Okay, jetzt wird’s ernst.“ Aber es geht nicht nur um Aussicht oder das Symbol des Amtes. Es geht darum, wie wir die Stadt gestalten. Ich möchte die guten Dinge fortführen, die Markus Lewe eingebracht hat. Münster ist eine tolle Stadt, hat einen eigenen Anspruch, nicht nur innerhalb der Region, sondern auch für Westfalen. Und als europäische Friedensstadt wünsche ich, diesen Anspruch unbedingt weiterzuführen und zu bewahren. Gleichzeitig möchte ich meine eigenen Erfahrungen einbringen. Ich arbeite schon lange in der Verwaltung und will dafür sorgen, dass Münster eine bürgerfreundliche, moderne und digitale Verwaltung bekommt. Wir müssen schauen, dass die Weichen richtig gestellt sind. Bezahlbarer Wohnraum ist da ein ganz zentrales Thema. Wir planen rund 2000 neue Wohnungen jährlich, aber wir müssen auch prüfen, wie viel Geld überhaupt da ist, welche Projekte machbar sind und welche wir priorisieren müssen. Bei alledem darf niemand vergessen werden. Menschen am Rande der Gesellschaft, Menschen mit Behinderung, psychisch kranke Menschen, pflegebedürftige Menschen. Inklusion ist ein riesiges Thema für mich. Wir müssen Münster so gestalten, dass wir den nächsten Generationen eine Stadt hinterlassen, die genauso lebenswert ist, wie wir sie gerade erleben.
Aber die politische Realität. Oberbürgermeister sein und gleichzeitig eine Ratsmehrheit sichern. Wie realistisch ist das?
Ich glaube daran, dass ich Oberbürgermeister werde – da bin ich optimistisch und arbeite jeden Tag daran. Aber eine stabile Ratsmehrheit – das wird kniffliger. Die Zeiten, in denen eine große Partei einfach die Mehrheit im Rat hatte, sind vorbei. Heute kann jede kleine Partei einziehen, wenn sie genügend Stimmen bekommt. Mehrheiten sind keine Selbstläufer mehr, die muss man sich hart erarbeiten. Wir müssen kooperieren, Allianzen bilden, miteinander regieren. Mein Anspruch ist, dass Oberbürgermeister und Ratsmehrheit zusammenpassen – nicht so wie jetzt, wo die CDU den Oberbürgermeister stellt, aber ein grün geführtes Bündnis im Rat dagegensteht. Das wirkt nach außen kompliziert, und viele Menschen verstehen das gar nicht. Ich arbeite dafür, dass die CDU weiterhin die stärkste Fraktion ist und wir Mehrheiten bilden können, ohne dass die Politik in Münster blockiert wird. Gleichzeitig möchte ich offenbleiben für den Dialog mit allen demokratischen Kräften, um gemeinsam Lösungen zu finden. Ich glaube, dass das möglich ist. Aber es ist eine sehr ambitionierte Aufgabe. Man muss dranbleiben, muss strategisch arbeiten, mit einem motivierten Team. Und genau das machen wir. Oberbürgermeister sein und die Stadt zukunftsfähig machen – das ist möglich, wenn man beides zusammen denkt: Vision für Münster und die politische Realität.
Georg, früher war es ja einfach. CDU plus FDP, Mehrheit stand, Politik lief. Heute sieht es anders aus. Eine Vielzahl an Parteien ziehen in den Rat, jeder hat ein Megafon. Stabile Mehrheiten? Eher Wunschtraum. Also: Glaubst du wirklich, dass du Oberbürgermeister wirst und noch dazu eine Mehrheit hinter dir hast?
Ich glaube daran, sonst würde ich nicht antreten. Aber ich mache mir nichts vor. Das ist kein Selbstläufer. Wir erleben gerade, wie brüchig Mehrheiten geworden sind. Denk an die Bundestagswahl. Ein einziges Video, und schon kippt das ganze Bild, plötzlich ist eine Partei wieder im Bundestag, die vorher keiner mehr auf dem Zettel hatte. Solche Ausschläge gibt es heute. Deshalb arbeite ich rund um die Uhr, und zwar nicht allein. Wir haben ein tolles, motiviertes Team für den Rat, Menschen, die Münster in seiner Vielfalt widerspiegeln. Ich will, dass dieses Team nicht nur Wahlkampf macht, sondern auch im Rat sitzt und Verantwortung übernimmt. Und ja, mein Ziel ist, dass Oberbürgermeister und Ratsmehrheit zusammengehören. Alles andere lähmt. Wir sehen das gerade bei Markus Lewe auf dem Chefsessel, aber das grün geführte Bündnis aus SPD und Volt macht Front. Für die Außenwirkung katastrophal. Viele Münsteraner merken das gar nicht, dass der OB keine Mehrheit hinter sich hat – aber genau da liegt das Problem. Politik darf nicht nur Show sein. Deshalb sage ich: Koalitionen ja, aber nicht um jeden Preis. Es darf keine Mehrheit geben, die sich allein gegen die CDU definiert. Ich will, dass wir stärkste Fraktion bleiben und Münster nicht in Grabenkämpfen versinkt.

Wir erleben gerade wie brüchig Mehrheiten geworden sind.
Von außen wirkt Münster ja wie ein solch kleines Schlaraffenland: Alle lächeln, Kultur top, AfD kein Thema, man könnte fast meinen, wir schweben über die Promenade. Aber schaut man genauer hin, sieht’s weniger rosig aus: unbezahlbare Wohnungen, Kitas im Dauer-Notbetrieb, das Hochhaus in Coerde hängt in der Luft, soziale Projekte ächzen, weil aus Düsseldorf das Geld nicht mehr fließt. Wo bröckelt für dich die heile Fassade am meisten?
Am Alltag der Familien, da knallt’s. Noch vor einem halben Jahr hieß es: „Wir bekommen keinen Kitaplatz mehr!“ Eltern mussten durch die halbe Stadt gurken, Notlösungen, Stress pur. Jetzt haben wir plötzlich mehr Plätze als Kinder und die Träger fragen: „Wer zahlt uns das eigentlich?“ Das ist doch grotesk. Und es zeigt, die Familien ziehen weg. Wer es sich leisten kann, geht raus aufs Land, weil Wohnen in Münster unbezahlbar geworden ist. Und wenn die jungen Familien fehlen, verliert die Stadt auf Dauer ihre Zukunft. Dazu kommt die Finanzlage. Die Landesmittel im sozialen Bereich brechen weg, Integrationsprojekte werden auf Kante genäht, Jugendarbeit geht ans Limit. Wir schmücken uns gern mit dem Bild der glänzenden, weltoffenen Vorzeigestadt – und ja, darauf bin ich stolz. Aber man darf sich nicht vormachen, dass alles Sonnenschein ist. Unter der schönen Oberfläche gibt es auch Problembereiche, und die müssen wir ehrlich ansprechen.
In Münster ist Bauen inzwischen fast so teuer wie ein Ticket ins Weltall. Betonpreise schießen hoch, Energiepreise klettern munter mit, und die Grundstücke kosten gefühlt mehr als Goldbarren. Da fragt man sich: Wo ist da überhaupt noch kommunaler Handlungsspielraum?
Stimmt schon. Ich kann weder den Marktpreis für Zement drücken noch entscheiden, was ein Kubikmeter Gas kostet. Aber das heißt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen dürfen. Unsere größte Stellschraube liegt direkt unter unseren Füßen, im Boden. In Münster ist Grund und Boden wertvoll. Da können wir steuern, zum Beispiel über Erbpachtmodelle. Das bedeutet, Familien kaufen nicht gleich das Grundstück, sondern pachten es über Jahrzehnte, im Zweifel bis zu 99 Jahre. Das entlastet die Bauherren enorm, weil die Finanzierung für den Boden nicht mehr alles auffrisst. Und damit machen wir Hausbau auch wieder für Normalverdiener möglich. Wichtig ist mir: Wir benötigen die gesamte Bandbreite. Sozialer Wohnungsbau muss gestärkt werden, klar. Aber genauso benötigen wir Einfamilienhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser und Mietwohnungen. Ich will keine einseitigen Quartiere, sondern durchmischte Strukturen. Nur so bleibt die Stadt lebendig. Wenn der Lehrer neben der Krankenschwester wohnt und die Rentnerin neben der jungen Familie – das ist für mich das A und O. Und da hat die Stadt viel mehr Gestaltungsspielraum, als oft behauptet wird.
Thema Kitas. Eltern erzählen, sie wohnen in Handorf, die Kita steht vor der Tür, und trotzdem fährt man morgens nach Gievenbeck, weil nur da noch ein Platz frei ist. Das klingt nach Behördenirrsinn. Woran hakt es?
Es hakt an der Organisation. Wir haben in Münster Stadtteile, die wachsen. Junge Familien, viele Kinder, Kitas sind übervoll. Und wir haben andere Ecken, da sind Betreuungsplätze frei. Das führt dazu, dass Eltern quer durch die Stadt pendeln müssen. Und das darf so nicht bleiben. Mein Ansatz lautet, mehr Flexibilität bei den Trägern. Ob kirchlich oder frei. Wir müssen gemeinsam schauen, wie wir Personal da einsetzen, wo Kinder sind. Wenn eine Erzieherin in Gievenbeck arbeitet, aber in Handorf dringend gebraucht wird, dann muss man so etwas auch organisieren können. Natürlich, das geht nicht von heute auf morgen, aber mit klugen Absprachen ist da viel drin. Der Kita-Navigator, unser digitales Anmeldesystem, ist dabei Fluch und Segen zugleich. Ohne ihn hätten wir pures Chaos, denn niemand könnte diese Mengen an Anmeldungen sonst von Hand sortieren. Aber das muss eben funktionieren. Es reicht nicht, wenn Eltern am Bildschirm eine schöne Übersicht sehen, aber in der Realität doch keinen Platz bekommen. Ja, der Navigator ist sinnvoll, aber er muss verbindlicher, einfacher und verlässlicher werden. Sonst verliert er Vertrauen und das können wir uns in diesem Bereich nun wirklich nicht leisten.

Georg, lass uns über Sicherheit in Münster reden. Ich bin ehrlich: Ich fühle mich hier eigentlich nicht unsicher – selbst nachts am Bahnhof. Aber trotzdem kocht das Thema immer wieder hoch: Facebook-Posts, Straßenfeste abgesagt, Sicherheitsmauern am Bahnhof. Was ist da los in dieser Stadt?
Da müssen wir differenzieren. Münster ist nicht Berlin – die echten Brennpunkte liegen woanders. Trotzdem gibt es Orte, an denen sich Menschen unwohl fühlen, und das muss man ernst nehmen. Sicherheit ist für mich ein Paket aus mehreren Ebenen. Polizei und Ordnungsdienst, bauliche Maßnahmen wie Beleuchtung und Müllbeseitigung, aber auch Sozialarbeit. Gerade am Bahnhof treffen sich Menschen, die drogenabhängig oder obdachlos sind. Verbieten lässt sich das nicht. Deshalb benötigen wir Räume, wo Konsum zumindest kontrollierter abläuft, wir benötigen Sozialarbeiter, die mit diesen Menschen reden, und Präsenz, die zeigt: Wir haben ein Auge auf die Situation. Das Ziel ist nicht, jeden Konflikt auszumerzen, sondern dass Menschen, die den Bahnhof oder die Stadt nutzen, sich nicht bedroht fühlen. Und diese gefühlte Unsicherheit ist real, das kann man nicht wegdiskutieren. Wenn eine Frau sagt, dass sie nachts einen Weg meidet, weil sie sich unsicher fühlt, dann ist das ein Signal, dem wir nachgehen müssen.
Okay, das klingt alles schön und gut – aber wie soll Münster das finanzieren? Sozialarbeit wurde in den vergangenen Jahren kontinuierlich gekürzt, Gelder kommen kaum nach. Wie wünschst du dir, all das umzusetzen, ohne dass der Rest der Stadt darunter leidet?
Das ist der Kernpunkt. Am Anfang muss ein Kassensturz stehen. Was haben wir, was geben wir aus, und wo lassen sich Prioritäten neu setzen? Der sogenannte Münster-Standard muss überprüft werden. Was ist zwingend notwendig, was ist optional? Sicherheit darf nicht auf Platz drei landen. Wenn wir uns für Sozialarbeit, Präsenz, bauliche Verbesserungen einsetzen, kostet das Geld. Aber es ist eine Investition, die Lebensqualität sichert und langfristig Kosten verhindert. Es geht also um Priorisieren. Wir behalten, was funktioniert, investieren gezielt in Prävention und Infrastruktur und streichen, was nicht zwingend notwendig ist. Und das muss transparent im Rat besprochen werden. Wer soll es bezahlen? Welche Maßnahmen sind sinnvoll? Es ist keine Frage des Wollens, sondern des klugen Handelns mit den Ressourcen, die wir haben.
Letzte Frage, Georg. Was ist wahrscheinlicher: Du ziehst Anfang November ins Rathaus – oder Preußen Münster beendet die Saison ohne Abstiegsangst?
(lacht) Ich will ehrlich sein: beides. Ich will, dass Münster politisch stabil bleibt, natürlich mit mir als Oberbürgermeister, und sportlich erfolgreich. Ich sehe es als Herausforderung, nicht als Widerspruch. In fünf Jahren will ich Preußen Münster im oberen Drittel der Zweiten Liga sehen. Wenn wir das hinbekommen – also Rathaus stabil, Stadtgesellschaft eingebunden und Preußen sportlich auf Kurs –, dann geht es Münster wirklich gut. Alles andere wäre zu klein gedacht.
Dr. Georg Lunemann
Der 1967 Geborene ist Direktor des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. Jetzt hat er ein neues Ziel: Er möchte ins Rathaus als Oberbürgermeister der Stadt Münster. Ideen für die Aufgabe hat er schon.
Illustration Thorsten Kambach / Fotos Anna Schade


