
Chiara Kucharski spricht mit Dr. Christian Huesmann von der Bertelsmann-Stiftung über dessen Projekt gegen Fake News
ALLES FAKE?
Wer könnte nicht grundsätzlich begeistert sein von einer breiten Medienlandschaft, zahlreichen Verlagen, einer Vielfalt an Newsportalen und Informationskanälen? Doch spätestens mit wandelnden Technologien entstehen neue Herausforderungen. Wie hantiert man mit Meldungen und Nachrichten in Zeiten, in denen fast jeder Nachrichten erstellt, postet, teilt und Fotos, Videos und Stimmen gleichzeitig täuschend echt erzeugt, kopiert und verändert werden können?
Sie sind Senior Project Manager im Bereich Demokratie und Zusammenhalt. Wie geht man so ein großes Feld an?
Zunächst einmal würden wir unser Bild von Demokratie als vielfältige Demokratie beschreiben. Die größte zentrale Säule ist die repräsentative Demokratie. Ergänzend dazu existieren zwei Aspekte, die immer stärker werden und an Bedeutung zunehmen, da Bürgerinnen und Bürger auch abseits von Wahlen beteiligt werden wollen. Die direkte Demokratie spielt vor allem auf kommunaler Ebene und auf Landesebene eine Rolle. Daneben gibt es noch die dialogische Säule mit Bürgerbeteiligung. Die wird auf allen Ebenen, von der Kommune bis zum Bundestag, immer wichtiger.
Wie arbeiten Sie in Ihrer „Abteilung“ auf Zusammenhalt hin? Wer soll zusammenhalten?
Uns geht es um alle gesellschaftlichen Gruppen: Unsere Gesellschaft verändert sich infolge von Globalisierung und Migration. Die soziale, politische, ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt wächst. Unser Land braucht neue Ideen und Strategien, wie wir damit verbundene Konflikte in fairer Weise lösen, Ungerechtigkeiten sowie Diskriminierung bekämpfen und Teilhabe stärken können. Unsere Institutionen müssen so gestaltet sein, dass alle Menschen in Deutschland sich in Politik und Gesellschaft einbringen können.
Was uns zu den Bürgerbeteiligungsprojekten bringt.
Das sind Formate, bei denen sich Bürgerinnen und Bürger mit Politikerinnen und Politikern austauschen können und beratend tätig sind. Dort bringen sie ihre Meinung und ihre Expertise als Bürger, als von Politik betroffene Personen, in den politischen Entscheidungsprozess ein. Bürgerräte sind etwa eine sehr gute Methode, bei denen zufällig ausgewählte Bürger über eine lange Zeit mit Experten zu einem konkreten Thema diskutieren, deliberieren und Handlungsempfehlungen aussprechen.
In dem Projekt gegen Desinformation wurden ebenfalls Handlungsempfehlungen durch Bürger erarbeitet. An wen richten sich diese?
Es wurden in ihrer letzten Sitzung 15 Empfehlungen mit 28 konkreten Maßnahmen von den Bürgern formuliert, die sich sowohl an Politik als auch an Wirtschaftsmedien und NGOs richten. Hauptabnehmer ist das Bundesinnenministerium, das dieses Jahr die Strategie der Bundesregierung zum Umgang mit Desinformation formuliert hat und Bürger beteiligen wollte, um praktische Lösungen zu entwickeln. Die große Übergabeveranstaltung an die Ministerin Frau Faeser hat kürzlich in Berlin stattgefunden.
Können Sie etwas zu den Empfehlungen sagen?
Ein Großteil der Empfehlungen, die sich immer in dem Spannungsfeld zwischen Schutz vor Desinformation und Schutz der Meinungsfreiheit abspielen, ist dem Bereich der Bildung und Sensibilisierung zuzuordnen. Favorit ist, sowohl im schulischen System als auch bei Erwachsenenbildung für stärkeren Kompetenzaufbau und Sensibilisierung bei den Bürgern zu sorgen, um mit dieser rasant voranschreitenden Technologie mithalten zu können.
Ein Beispiel?
In den letzten zwei Jahren etwa ist Technologie, gerade im Bereich von Künstlicher Intelligenz, weit fortgeschritten. Bestimmten Dingen, wie beispielsweise einem Foto von Veranstaltungen, das wir noch vor kurzem als Beweis angesehen haben, können wir nicht mehr eins zu eins den Wahrheitsgehalt zusprechen, wie wir es früher gemacht haben. Das hat große Brisanz, wenn etwa Videos mit Stimmen von Politikern gefaked werden können, die angeblich zu etwas aufrufen, das nicht der Fall ist. Es sind auch früher schon Bilder und Texte eingesetzt worden, die verändert und gefälscht worden sind. Das Neue ist nur, dass die Technologie besser funktioniert und dass durch soziale Medien eine schnelle Verbreitung stattfinden kann.

In den letzten Jahren ist die künstliche Intelligenz weit fortgeschritten
Was macht man da?
Der erste Ansatzpunkt ist vor allem: Wie gehen wir als Gesellschaft mit Informationen und Bildern um? Ein weiterer Punkt ist der Standard von Journalismus, bei dem es darum geht, Medien und Journalismus zu stärken. Das führt zu einem Zusammenspiel.
Was muss sich in dem Zusammenhang bessern?
Dass Quellennennung und Nennung auch von KI generierten Bildern und Texten stattfinden, die wiederum zusammengehören, mit einer höheren Awareness für die Bürger. Das muss ich schon deutlich sagen: Eine Königsdisziplin, die eine Maßnahme, die eine alles abdeckende Problemlösung bietet, gibt es nicht. Es geht nur darum, uns als Gesellschaft fitter zu machen, im Umgang mit diesem Problem.
Bedeutet es schlussendlich mehr Recherchearbeit für den Bürger, der Medien konsumiert?
Vor allen Dingen wird es bedeuten, dass Medien und der Medienhandel diese potenzielle Recherche der Bürger deutlich erleichtern müssen. Das heißt nicht, dass der einzelne Bürger tatsächlich jeden einzelnen Artikel nachrecherchiert. Aber allein die offene Darstellung der Recherche und der Quellen zum konkreten Thema wird es mir persönlich einfacher machen, die eine Aussage zu verifizieren, die ich nachlesen möchte. Es erleichtert das Korrektiv und die Transparenz.
Welche weiteren Empfehlungen gibt es von den Bürgern?
Außerdem ist zu nennen, dass soziale Netzwerke stärker in die Pflicht genommen werden sollen. Ein Knackpunkt ist aktuell noch, wie es um den Einfluss fremder Staaten steht. Das ist auch ein Thema, das Bürger diskutiert haben. Wie schützen wir uns als Gesellschaft vor Desinformationskampagnen von einem dritten Akteur? Da geht es um die Prüfung von strafrechtlichen Folgen, wenn strafbare Dinge geschehen.
Ist Verifizierung von Informationen und Meinungsfreiheit ab einem gewissen Punkt nicht ein schmaler Grat?
Das ist es wirklich und war auch für mich persönlich ein Augenöffner im Zuge des gesamten Projektes. Das Bundesinnenministerium hat eine sehr klare, liberale Haltung. Es sagt klar von sich: „Wir können und wollen kein Wahrheitsministerium sein.“ Es geht nicht um die Entdeckung von Wahrheit oder Lüge, es geht nur darum, wie mit Desinformation umgegangen wird.
Wie wird unterschieden?
Es geht darum, wie wir mit gezielter Nutzung von falschen Informationen, um Schaden anzurichten, umgehen. Es geht nicht einmal um das Verbieten, sondern nur um den Umgang damit. Denn so ist die rechtliche Lage in Deutschland. Lügen ist erlaubt und soll auch erlaubt bleiben. Ich kann mich hinstellen und behaupten, der Himmel sei grün, die Sonne sei blau. Das ist nicht strafrechtlich verfolgbar und in dieser liberalen
Demokratie auch schützenswert.
Wie werden die Ausarbeitungen der Bürger nun an entsprechende Entscheidungsträger kommuniziert?
Wir stellen regelmäßig den direkten Kontakt zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern her. In diesem konkreten Fall bringen wir Bürger nicht nur mit der Ministerin, sondern auch mit eingeladenen Stakeholdern aus Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen. Dafür nutzen wir Dialogveranstaltungen, wo die Bürger die Möglichkeit haben, ihre Empfehlungen vorzustellen und ganz konkret in Gespräche mit NGOs und politischen sowie wirtschaftlichen Entscheidungsträgern zu gehen.
Wie wird man als Bürger auf Projekte wie Ihre aufmerksam?
Bürgerbeteiligungsprojekte brauchen die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit. Wir empfehlen Kommunen und Städten neben kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit die Einrichtung eines Bürgerbeteiligungsportals mit einem „planning alert“ (Anm. d. Red.: Termin-Benachrichtigung), um transparent über die aktuellen Projekte zu informieren. So haben interessierte Bürger einen Anlaufpunkt, um sich zu informieren.
Wie steht es um die Beteiligung an der Kampagne gegen Fake News?
Es gab eine große Online-Beteiligung, man kann es schon Massenbeteiligung nennen. Analysen und Umfragen machen deutlich, dass Bürgerbeteiligungen einen sehr positiven Effekt hat. Allerdings ist die Aufmerksamkeitsschwelle hoch.

Da geht es um die Prüfung von strafrechtlichen Folgen
Wieso?
Es kommt selten vor, dass in der Tagesschau darüber berichtet wird, dass das Gesetz oder bestimmte Verordnungen mit beteiligten Bürgern zustande gekommen sind. Das finde ich ein bisschen schade, weil wir denken, dass dieses Wissen, dass Bürger beteiligt werden, auch zum stärkeren Vertrauen in die
demokratische Struktur und demokratische Entscheidungen führt. Somit wollten wir Massenbeteiligung erreichen, um diese Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden.
Wie sieht diese Massenbeteiligung aus?
Packen wir mal ein paar Zahlen aus: An der Online-Beteiligung haben über 400.000 Menschen aus Deutschland teilgenommen. Es gab über 1.500.000 Abstimmungen und über 3000 Vorschläge wurden erarbeitet. Das sind schon Zahlen, die gerade in Bezug auf öffentliche Bürgerbeteiligungen nicht normal sind. Da hat das Thema Desinformation eine hohe gesellschaftliche Relevanz.
Offensichtlich.
Im vergangenen Jahr haben wir eine Umfrage geschaltet, wie viel Prozent der Bürger in Deutschland Desinformation als Problem ansehen. Da kommen wir auf 84 Prozent der Menschen in Deutschland. Im Gegenzug geben nur 16 Prozent an, dass das Thema für sie selbst ein Problem sei. Viele schätzen sich selbst immer schlauer ein als die Gesellschaft.
Zu guter Letzt: Geht Ihr Ansatz ein bisschen in Richtung schweizerische Volksbeteiligung?
Der Unterschied zu der direkten Demokratie ist natürlich, dass sie auf Freiwilligkeit basiert. Wir können niemanden bei Microsoft oder Meta zwingen, auf diese Empfehlungen zu setzen. Was wir machen können, ist der zwanglose Zwang des guten Arguments, als Gesellschaft vorzugeben, wie es funktionieren kann. Gerade diese Massenbeteiligung lässt uns hoffen, dass die Umsetzung gelingt. Aber ebenso wichtig ist es, dass die Menschen durch die Medienberichterstattung wissen, dass da etwas passiert.
Dr. Christian Huesmann
Er ist seit 2015 für die Bertelsmann-Stiftung tätig und Senior Project Manager im Bereich Demokratie und Zusammenhalt. Die Stiftung wurde 1977 von Reinhard Mohn gegründet und nennt als wesentliches Ziel eine Gesellschaft, die chancengerecht und demokratisch ist, mit Teilhabe, verlässlichem wirtschaftlichem Rahmen, sowie sozialer Integration.
lllustration Thorsten Kambach / Fotos Dr. Christian Huesmann