Arndt Zinkant im Gespräch mit dem Wikipedia-Kritiker Andreas Mäckler
DIE STUNDE DER STÜMPER
Vor drei Jahren gab Dr. Andreas Mäckler sein erstes „Schwarzbuch Wikipedia“ heraus, in welchem vor allem Autoren zu Wort kamen, die in ihrem Personeneintrag diffamiert worden waren. Auch Mäckler selbst gehörte dazu – und erzählte uns im Interview darüber. Nun hat der freie Autor einen zweiten Band veröffentlicht, der sich dem dubiosen Finanzgebaren des Online-Lexikons widmet.
Drei Jahre sind seit Ihrem ersten „Schwarzbuch Wikipedia“ vergangen. Was hat sich seitdem getan?
Zunächst einmal, humorvoll betrachtet, sind wir alle etwas älter geworden. Aber ernsthaft gesprochen: Unsere Beobachtungen zeigen, dass Wikipedia und die Gemeinschaft der „Wikipedianer“ mitunter Strukturen aufweisen, die an eine Sekte erinnern. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Reaktionen auf Kritik betrachtet. In der Welt von Wikipedia, einer Plattform, die sich als Wissensdatenbank versteht, äußern sich solche Reaktionen vor allem in Form von Diffamierung und Diskreditierung öffentlicher Personen. Diese Erfahrungen machten nicht nur die Autoren des ersten Bandes und ich selbst, sondern auch viele andere. Trotzdem gab es zahlreiche positive Rezensionen sowohl in alternativen Medien als auch gelegentlich im Mainstream. Für den zweiten Band des „Schwarzbuchs Wikipedia“ habe ich bei der Auswahl der Autoren und Texte wieder besonderen Wert auf die Qualität der Beiträge gelegt, ohne dabei politische oder weltanschauliche Ausrichtungen zu berücksichtigen.
Das neue, soeben erschienene Buch konzentriert sich auf den finanziellen Aspekt bei Wikipedia: das Abschöpfen von vielen Millionen Dollar bei gleichzeitiger Bettelei um Spenden. Wie ist das möglich?
Finanzielle Gier kennt oft keine Grenzen. Wikipedia hat sich zu einer Plattform mit beträchtlichem Marktwert entwickelt. Dies lässt sich durch das Prinzip der Sozialisierung von Arbeit und Privatisierung des Nutzens im Rahmen kapitalistischer Strukturen erklären. Andreas Kolbe (Deutschland/Großbritannien) und Michael Olenick (USA/Frankreich) legen in ihren Arbeiten eindrucksvolle Zahlen und fundierte Recherchen vor, die diese Entwicklung dokumentieren. Sie beleuchten auch die Geschäftsbeziehungen zwischen Wikimedia und anderen global agierenden Tech-Unternehmen aus den USA. Besonders ironisch erscheint in diesem Kontext die jährliche Spendenkampagne, bei der Spender persönlich per E-Mail von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales um Unterstützung angebettelt werden, so als ob man ein notleidendes kleines Unternehmen wäre. Das mag vor 15 Jahren der Fall gewesen sein, aber heute ist die Wikimedia-Foundation eine finanzkräftige Tech-Firma. Sie hat ihre Ausgaben in den letzten zehn Jahren mehr als vervierfacht und trotzdem noch Hunderte Millionen Dollar mehr eingefahren, als sie ausgegeben hat. Die Vergütungen der Führungskräfte gehen in die Höhe. Ein Beispiel: Die scheidende Wikimedia-Chefin erhielt 2021 zusätzlich zu ihrem Gehalt einen „goldenen Handschlag“ von über 600000 US-Dollar.
Der Autor Andrew Keen spricht im Buch von der „Stunde der Stümper“ – der Laie ersetze immer mehr den Profi. Warum kümmert das Ihrer Ansicht nach so wenige Menschen?
Andrew Keens Hauptthese ist, das Internet habe dazu geführt, dass unqualifizierte Meinungen und Inhalte die professionelle und qualitativ hochwertige Arbeit von Experten überschwemmen und verdrängen. Die Definition von „Expertenwissen“ verändere sich im digitalen Zeitalter. Wissen und Fähigkeiten, die früher exklusiv waren, sind durch das Internet für viele zugänglich geworden, was zu einer Neubewertung der Expertenrolle führt. Eine allgemeine Unterbewertung von Fachwissen und Professionalität in der Gesellschaft sei daher die Folge.
Das Thema Mobbing, ist ein ernstes Problem
Angeblich lässt die Begeisterung der idealistischen Autoren merklich nach. Wie reagiert Wikipedia darauf? Durch ein Bezahlmodell ja offenbar nicht.
Meiner Ansicht nach ist Wikipedia als System kaum noch auf Autoren angewiesen. Warum sollte also ans Bezahlen gedacht werden? Diese Perspektive wird durch die fortschreitende Entwicklung von Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) unterstützt. KI-Technologien generieren Inhalte zunehmend besser und kuratieren sie, was die Rolle der traditionellen „Wikipedia-Bienen“ – der ehrenamtlichen Autoren – verändert. Manche kritische Stimmen bezeichnen diese ehrenamtlichen Beiträger rückblickend als „nützliche Idioten“, die in Kürze überflüssig sein werden. Solange weltweit jährlich zunehmend mehr Geld gespendet wird, bleibt für Wikimedia als kleine Clique von Nutznießern die Welt in Ordnung. Deshalb verfeinert die Foundation auch stetig ihre Kampagnen zur alljährlichen Spendeneintreiberei, während die Textarbeit in der Wikipedia kaum Verbesserungen zeigt.
Andererseits gibt es ja sehrwohl bezahlte Autoren, zum Beispiel im Auftrag großer Firmen, obwohl das offiziell verboten ist. Warum geschieht es dennoch?
Es stimmt, dass es trotz offizieller Richtlinien gegen verdeckt geleistete bezahlte Beiträge auf Wikipedia einen Markt für Autoren gibt, die im Auftrag von Unternehmen und Personen des öffentlichen Lebens schreiben. Dies geschieht, weil Wikipedia eine Plattform mit großer Reichweite und Einfluss ist, was sie für PR-Zwecke attraktiv macht. In unserem „Schwarzbuch Wikipedia 2“ beleuchtet der indische Journalist Soumyadipta Banerjee in einem aufschlussreichen Artikel die Praktiken in Indien. Er weist die gleichen Strukturen und Mechanismen nach – wie sich auch weltweit ein Markt für Wikipedia-Beiträge entwickelt hat, der oftmals im Schatten der offiziellen Richtlinien operiert. Wir dokumentieren in unserem Buch Fälle, die verdeutlichen, wie lukrativ dieser Markt ist. Ein einzelner Wikipedia-Artikel kann 15000 Euro und mehr kosten. Dies illustriert die finanzielle Dimension, die hinter der Erstellung und Bearbeitung von Wikipedia-Inhalten stehen kann, insbesondere wenn es um die Darstellung von Unternehmen, Organisationen und Personen des öffentlichen Lebens geht.
Schweden rühmt sich mittlerweile, dass die Hälfte aller Wiki-Artikel, 3,67 Millionen, von Bots geschrieben würden – also durch künstliche Intelligenz. Ist das die Zukunft?
Ja, auf alle Fälle! Die Leistungsfähigkeit von ChatGPT und anderen KI-Generatoren ist fantastisch, eine große Hilfe für Kreative. Ich kommuniziere gern mit einem Bot, der mir bei der täglichen Textarbeit hilft. Ein derart gebildeter und kostengünstiger „Mitarbeiter“ ist physisch wohl nirgendwo zu finden. Dieser Trend zur KI-gestützten Inhaltsproduktion ist übrigens nicht auf Wikipedia beschränkt, sondern zunehmend in mehr Bereichen der Texterstellung und Informationsverarbeitung anzutreffen. Er markiert einen signifikanten Wandel in der Art und Weise, wie Inhalte im digitalen Zeitalter produziert und verwaltet werden – sicher nicht zum finanziellen Vorteil der meisten Texter, Autoren, Redakteure, Lektoren und Übersetzer. Deren durchschnittliches Honorar sinkt seit Jahrzehnten. Dass Wikipedia seine Autoren nie bezahlt, passt durchaus in eine Zukunftsperspektive, die Sorgen bereitet.
Nach wie vor ist das Mobbing per Wiki-Personeneintrag sehr verbreitet. Menschen werden von anonymen Autoren diffamiert. Lohnt sich der Klageweg?
Das Thema „Mobbing und Diffamierung“ durch Personeneinträge ist in der Tat ein ernstes Problem. Es ist jedoch wichtig, den Begriff „lohnen“ im Kontext von Gerichtsprozessen vorsichtig zu verwenden, da er implizieren könnte, dass der rechtliche Weg immer Nutzen und Vorteile mit sich bringt. Gerichtsverfahren können sehr kostspielig sein und setzen ein finanzielles Polster voraus. Neben den finanziellen Belastungen gibt es auch psychische Aspekte, die nicht zu unterschätzen sind, und der Ausgang solcher Verfahren ist oft ungewiss. In beiden Bänden des „Schwarzbuchs Wikipedia“ dokumentieren wir umfangreich die Erfahrungen von Personen, die rechtliche Schritte unternommen haben. Ein Beispiel ist der Komponist Elias Davidsson, der gegen den Benutzer „Feliks“ prozessierte. Ebenso erzielte der Schweizer Tierschützer Erwin Kessler in einigen Fällen Erfolge im Kampf gegen den Vorwurf des „Antisemitismus“. Die „Geschichten aus Wikihausen“ von Markus Fiedler und Dirk Pohlmann, die unter anderem auf YouTube verfügbar sind, bieten weitere Einblicke in viele Fälle. Diese Beispiele zeigen, dass der Weg über das Gericht zwar eine
Option, aber nicht immer die beste Lösung ist.
Die Vergütungen der Führungskräfte gehen in die Höhe
Wie ist Ihre persönliche Mobbing-Story, die im ersten Buch beschrieben wird, ausgegangen? Haben Sie alle gewünschten Löschungen erreicht?
In meiner persönlichen Mobbing-Geschichte ist es leider nicht zu den erhofften Löschungen aller problematischen Inhalte gekommen. Dies zeigt, dass man in Bezug auf Wikipedia nicht immer mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit rechnen kann. Ein Hauptproblem dabei ist die Anonymität vieler Wiki-Autoren, die es ihnen ermöglicht, ohne persönliche Verantwortung zu handeln. Diese Struktur schützt nicht nur wohlmeinende Autoren, sondern auch Mobber, Diffamierer und Verbreiter von Falschinformationen. Aber es gab auch Lichtblicke: Nach Jahren des Kampfes haben einige besonnene Wikipedia-Administratoren das beispiellose Mobbing zwischen dem Musiker Stuart Styron und Wikipedia auf der Plattform des Lexikons beendet. Dies geschah durch die Löschung diffamierender Textseiten eines Benutzers namens „Agathenon“ und anderer Wikipedia-Mobber, die einen Umfang von mehreren hundert Buchseiten gehabt hätten. Cyber-Mobbing ist eine ernste Angelegenheit, die Existenzen zerstören kann.
Sollte es ein Wikipedia-Zitierverbot für Schulen und Uni-Referate geben?
Im akademischen Kontext ist ein solches Zitierverbot inzwischen vielfach üblich. Von Studenten muss erwartet werden, dass sie primäre und sekundäre Quellen von hoher Qualität und Autorität verwenden. Damit kann Wikipedia nicht dienen, da die Inhalte von jedem bearbeitet werden können und die Informationen nicht von Experten endgültig überprüft werden. Wikipedia-Artikel können zwar als Ausgangspunkt für eine Literaturrecherche dienen, sollten aber aufgrund der variablen Qualität und möglichen Ungenauigkeiten selten direkt zitiert werden. Allerdings lassen Schüler und Journalisten heutzutage ihre Hausarbeiten und Artikel effektiver in Sekundenschnelle von ChatGPT und anderen KI-Generatoren schreiben – da wird Wikipedia als plagiierbare Ressource weiter an Attraktivität verlieren.
Letzte Frage: Nutzen Sie gelegentlich noch Wikipedia?
Ja, ich nutze Wikipedia gelegentlich, allerdings immer mit einem kritischen Blick. Es ist fast wie ein Ritual, dass ich dabei auf Fehler stoße. Es gibt ein altes Sprichwort, das besagt: „Der Teufel steckt im Detail“, und das ist auch bei Wikipedia so. Das „Schwarzbuch 2“ enthält einige lustige Beispiele hierzu. Diese Erfahrungen bestärken mich in der Ansicht, dass Wikipedia nicht als vollständig vertrauenswürdige Enzyklopädie angesehen werden kann.
Dr. Andreas Mäckler
Der Publizist Dr. Andreas Mäckler lebt in der Nähe von München. Der 64-Jährige hat sich als Krimiautor sowie als Biograf einen Namen gemacht. Jahrelang selbst betroffen von Wikipedia-Mobbing, entschloss er sich vor drei Jahren zur Herausgabe des „Schwarzbuchs Wikipedia“, dem er jetzt ein weiteres Buch folgen ließ, das sich vor allem mit dem Finanzgebaren der Online-Enzyklopädie beschäftigt.
llustration Thorsten Kambach / Fotos Andreas Mäckler