Arndt Zinkant befragt die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke
SCHALK IM NACKEN – MUT IM HERZEN
Bis zur achten Klasse war sie ein „sozialistisches Musterkind“, sagt Evelyn Zupke. Später wurde sie rebellisch, speziell gegen das „Zettelfalten“, wie sie die Wahlen in der DDR nannte. Evelyn Zupke war Teil des oppositionellen Kreises Weißensee und sorgte 1989 maßgeblich für die Aufklärung des Wahlbetrugs bei den DDR-Kommunalwahlen. Seit Kurzem ist sie die erste Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Ein Gespräch über Trauma-Opfer, alte Stasi-Schergen und Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“.
Frau Zupke, im vergangenen Jahr feierte die Bundesrepublik den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Mit welchen Gefühlen haben Sie ihn erlebt?
Für mich ist der Tag der Deutschen Einheit, ebenso wie der 17. Juni und der 9. November, immer wieder bewegend. An diesen Tagen empfinde ich tiefe Dankbarkeit für all das, was in den letzten 31 Jahren erreicht wurde. Manchmal denke ich, es würde uns als Gesellschaft helfen, wenn wir uns stärker auch an die Zeit der deutschen Teilung zurückerinnern würden.
Woran genau?
Viele haben selbst erlebt, was es heißt, nicht frei reisen zu dürfen. Heute darf jeder seine Meinung frei sagen und sich selbstverständlich auch kritisch zur Regierung äußern. All das war in der DDR völlig undenkbar. Die Freiheit, in der wir heute leben dürfen, ist für mich nicht selbstverständlich. Gerade deswegen bin ich überzeugt, dass die Erinnerung an die Zeit der deutschen Teilung und die Opfer der SED-Diktatur dabei helfen kann, sensibel zu sein für den besonderen Wert von Demokratie und Freiheit.
Ist die Einheit im Großen und Ganzen vollzogen oder klafft nach wie vor ein Graben zwischen Ost und West? Viele behaupten das ja.
Bei der Frage wird mir viel zu häufig nur auf die Defizite geschaut. Wir haben gemeinsam in den letzten 30 Jahren viel erreicht – dennoch brauchen insbesondere die strukturschwachen Regionen weiterhin Unterstützung, um dem grundgesetzlichen Anspruch gerecht zu werden, in ganz Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. In vielen Gesprächen in West oder Ost stelle ich eine fehlende Wahrnehmung fest, dass es mutige Menschen waren, die sich jahrzehntelang gegen das SED-Regime aufgelehnt und es schließlich zu Fall gebracht haben. 2019 hat der Bundestag die Einrichtung eines „Zentrums für Oppositions- und Widerstandsgeschichte“ beschlossen. Dieses Zentrum kann uns helfen, endlich die Widerstandsbewegung in ihrer Gänze zu verstehen, als wichtigen Teil unserer Geschichte zu würdigen und den nachfolgenden Generationen zu vermitteln.
Sie galten bereits in Schülertagen als widerständig, weshalb Sie nach dem Abitur 1980 nicht studieren durften. Aus welcher Quelle kam Ihr Widerspruchsgeist – vielleicht Freunde oder das Elternhaus?
Bis zur 8. Klasse war ich eher so etwas wie ein sozialistisches Musterkind. Meine Mutter war alleinerziehende Lehrerin, sodass durchaus Druck bestand, nicht aufzufallen. Allerdings hatten wir Verwandte in Berlin, die als Artisten arbeiteten und ab und zu ins Ausland reisen durften. Bei ihnen gab es andere Bücher, und man spürte ein klein wenig den Duft der großen weiten Welt. Mit dem Übergang in die Erweiterte Oberschule (EOS) wurde dann aus meiner eh nie zurückhaltenden Art ein gelegentliches Aufmucken. Zum Beispiel, indem ich mal offen eine Westplastiktüte trug, mal kein FDJ-Hemd anzog oder mich der geforderten Diffamierung eines Mitschülers nicht anschloss, der sich nicht als Offizier verpflichten lassen wollte.
Es waren also eher kleine, stachelige Widerstandsakte.
Ja – sie drückten aus, dass ich die Diskrepanz von Propaganda und Realität nicht hinnahm. In der Schule wurde mir daraufhin sehr klar gesagt, dass ich mich für ein Studium gar nicht erst zu bewerben brauchte. Aber ich hatte mich derweil auch selbst gegen dieses Bildungssystem entschieden – denn dies stand ja stellvertretend für den Staat.
Angeblich haben Sie 1983 eine öffentliche Terrasse mit Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ beschallt – was genau passierte Ihnen danach?
Ich habe mit meinem damaligen Freund den Straßenverkauf eines Terrassencafés in Binz auf Rügen betrieben. Das Café gehörte zum FDGB-Feriendienst, der den sogenannten Werktätigen in der DDR subventionierte Urlaubsreisen im Inland vermittelte. Und als das Lied „Sonderzug nach Pankow“ herauskam, bat ich einen befreundeten Techniker der Ferienheime, welcher Zugang zu verbotener Westmusik hatte, mir die Platte zuzuspielen. Mit dem Schalk, der mir stets im Nacken saß, spielte ich das Lied mitten im Sommer über die Terrassenlautsprecher ab. Da sich das in Windeseile herumsprach, wurde ich zum Heimleiter zitiert, der dann eine Art Verweis aussprach und meinen Lohn um 20 Prozent kürzte. Ich habe mich davon nicht einschüchtern lassen. Meinen Charakter, gern auch ein bisschen zu provozieren, hat es eher gestärkt.
Viele überzeugte SED-Mitglieder sind nach der Wende ruck, zuck wieder in Amt und Würden gelangt. Schmerzt Sie das?
Als SED-Opferbeauftragte werbe ich dafür, dass Politikerinnen und Politiker offen mit ihrer Biografie umgehen und die Anliegen der Opfer ernstnehmen. Wenn ich beispielsweise erlebe, dass in Mecklenburg-Vorpommern mit Torsten Koplin ein ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Offizier als Landeschef der Linken die Koalitionsverhandlungen führt, bin ich wie viele SED-Opfer fassungslos. Torsten Koplin hat über 30 Jahre Zeit gehabt, den Opfern der SED-Diktatur zu zeigen, dass er ihr Leid anerkennt. Aus Sicht der Opfer hat er das Gegenteil getan: Immer wieder traf er sich über die Jahre mit den Verbänden der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter. Es sind genau diese Verbände, die bis heute das SED-Unrecht leugnen und die Opfer verhöhnen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Biografie und der Geschichte seiner Partei sieht für mich anders aus.
Damit wären wir bei den SED-Opfern, Ihrem neuen beruflichen Aufgabenfeld. Was sind deren schlimmste Nöte?
Viele Opfer leiden bis heute an den körperlichen und psychischen Folgen ihrer Zeit im Gefängnis oder im Jugendwerkhof. Die Mehrheit von ihnen scheitert jedoch bei den Antragsverfahren für Hilfen, da man den ursächlichen Zusammenhang zwischen Haft und heutigem Leiden belegen muss. Dies ist nach all den Jahren aber nur schwer möglich. Ich werbe daher dafür, dass wir die Verfahren grundsätzlich vereinfachen. Wer beispielsweise in der DDR aus politischen Gründen in Haft saß und heute krank ist, sollte sich keiner langwierigen Begutachtung unterziehen müssen, sondern auf einem einfachen Weg Hilfe bekommen. Zudem lebt rund die Hälfte der SED-Opfer an der Grenze zur Armutsgefährdung. Gerade im Alter müssen wir die Betroffenen besser unterstützen, damit sie nicht ins gesellschaftliche Abseits geraten.
Ein Journalist äußerte jüngst bei der Bundespressekonferenz die Sorge, die DDR-Aufarbeitung könnte zur „Konkurrenz“ der NS-Erinnerung werden. Finden Sie die Befürchtung berechtigt?
Diese Gefahr sehe ich nicht. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist für unsere Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Wir stehen in der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur vor ähnlichen Herausforderungen. Wie gelingt uns die Vermittlung, wenn immer weniger Zeitzeugen zur Verfügung stehen? Wie schaffen wir es, mit unseren Themen im digitalen Raum präsent zu sein? Ich freue mich, dass die neue Regierung sich im Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht hat, das Gedenkstättenkonzept zu überarbeiten. Hier möchte ich mit den Einrichtungen, die sich für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus einsetzen, an einem Strang ziehen.
Haben Sie eine Agenda oder einen Masterplan für die nächsten Jahre Ihrer Arbeit?
Ich habe die Monate nach meinem Amtsantritt dafür genutzt, mit vielen Opfern zu sprechen, mit Verbänden und Initiativen, mit Beratungsstellen und den Landesbeauftragten in den ostdeutschen Ländern, die sich seit Jahrzehnten für die Opfer einsetzen. Wo aktuell besonders großer Handlungsbedarf besteht, habe ich in einem Bericht zusammengefasst und am 9. November dem Bundestag vorgelegt. Es freut mich sehr, dass viele der Vorschläge im Koalitionsvertrag aufgegriffen wurden – etwa die Einrichtung eines bundesweiten Härtefallfonds, Verbesserungen bei der Anerkennung von Gesundheitsschäden, die Dynamisierung der Opferrente und die Überarbeitung des Gedenkstättenkonzeptes.
Schon kurz nach der Wende wollten viele von Aufarbeitung nichts wissen. Die Stasi-Akten seien eine „Büchse der Pandora“, die besser geschlossen bliebe. Was antworten Sie denen?
Ich habe selbst an der Auflösung der Staatssicherheit mitgewirkt. Unsere Sorge war damals, dass Strukturen fortbestehen könnten, wenn wir sie nicht offenlegen. Die Menschen wollten zudem Klarheit darüber haben, wer wie in ihr Leben eingegriffen hat. Grundsätzlich gibt es ja keine Pflicht, sich die Akten anzusehen. In vielen Gesprächen mit den Opfern erlebe ich aber, dass diese ein wichtiges Instrument zur Aufklärung sein können. Viele Menschen können mithilfe der Stasi-Unterlagen Ereignisse in ihrem Leben rekonstruieren: Warum habe ich damals diese Arbeitsstelle nicht bekommen? Woher wusste die Stasi von meinen Fluchtplänen? Wer hat mich bespitzelt? Mithilfe der Akten können die Opfer sich einen Teil ihres gestohlenen Lebens zurückholen. Auch im Umgang mit den früheren Stasi-Offizieren und inoffiziellen Mitarbeitern tragen die Unterlagen zu einer differenzierten Betrachtung bei. Mir geht es dabei nicht um Schuld, sondern um Aufklärung und Verantwortung.
INFO
Evelyn Zupke
Sie ist 1962 in Binz auf Rügen geboren, ist ausgebildete Heilerziehungspflegerin und Fachberaterin für Psychotraumatologie. Ab 2008 war sie als Sozialpädagogin in der ambulanten Eingliederungshilfe für Menschen mit psychischer Erkrankung in Hamburg tätig. Als Teil des oppositionellen Friedenskreises Weißensee sorgte sie 1989 maßgeblich für die Aufdeckung von DDR-Wahlbetrug. Seit Kurzem hat Zupke das Amt der SED-Opferbeauftragten inne, das 2021 nach der Auflösung der Stasi-Unterlagenbehörde neu geschaffen wurde.
Autor Arndt Zinkant / Illustration Thorsten Kambach / Fotos DBT / Korge, DBT / Julia Nowak
Erstmalig erschien dieser Text in Stadtgeflüster Interview Februar 2022
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