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ZUSAMMEN UND IN SICHERHEIT

Als die Bombardierung ihrer Heimat immer heftiger wird, entschied eine Familie aus der Ukraine, das Land zu verlassen. Marina Abdulmalik flieht mit ihren jüngsten Kindern Adrian und Amelia per Zug Richtung Westen. Als sie in Münster ankommen, haben sie nichts außer der Kleidung, die sie tragen, und zwei Rucksäcke. Zwei Tage später erreicht ihr Mann Aziz die Familie. Das Wichtigste: Sie haben überlebt. Hier fühlt sich die Familie sicher. Doch sie machen sich große Sorgen um Familie und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind.

Tim Schaepers spricht mit Marina und Aziz über eine ungewisse Zukunft

Wie habt ihr den Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine seit dem 24. Februar erlebt?

Aziz: Früh am Morgen, etwa um vier Uhr, hörten wir laute Explosionen. Alle wachten auf und wir haben uns gefragt, was das sein könnte. Wir waren sehr verwirrt und hatten große Angst.

 

Wo in der Ukraine habt ihr gelebt?

Marina: In Charkiw, im Osten der Ukraine, nahe der russischen Grenze. Die Explosionen waren so nah, dass unsere Fenster vibrierten. Wir waren in großer Sorge, vor allem um unsere Kinder. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Es war eine furchtbare Situation.

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Wann habt ihr entschieden zu fliehen? Gab es einen besonderen Moment, an dem ihr euch dachtet: „Wir müssen hier weg!“?

Aziz: Wir haben noch zwei Tage zu Hause verbracht, weil wir gehofft haben, dass alles wieder gut werden würde. Doch es wurde immer schlimmer. Meine Frau und die Kinder sind zunächst auf dem Land außerhalb der Stadt untergekommen. Als die Luftangriffe immer öfter und heftiger wurden, entschieden wir dann, das Land zu verlassen.

 

Auf welche Weise seid ihr nach Münster gekommen?

Marina: Wir sind zunächst mit einem der Evakuierungszüge von Charkiw nach Lwiw ganz im Westen an der Grenze zu Polen gefahren. Und dann weiter nach Deutschland und schließlich bis nach Münster – hauptsächlich mit dem Zug. Am 5. März sind wir hier angekommen. Die dreitägige Reise war sehr hart. Wir haben stundenlang in der Schlange gestanden – an den Grenzen, den Bahnhöfen, an Bussen und bei der Ankunft. Während wir warteten, gab es keine Möglichkeiten zu sitzen, geschweige denn zu schlafen.

 

Aziz: Aber wir sind nicht zusammengefahren. Meine Frau und die Kinder sind zwei Tage früher angekommen, weil ich nicht in den Evakuierungszügen mitfahren durfte, schließlich hatten Frauen und Kinder Priorität.

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War es schwieriger für dich, einen farbigen Ukrainer, auszureisen, als für weiße?

Aziz: Ja, ich denke schon. Das ist leider so. Aber ich war überglücklich, als ich endlich bei meiner Familie und in Sicherheit war.

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Was hattet ihr bei euch, als ihr hierhergekommen seid?

Marina: Wir konnten nicht mehr als zwei Rucksäcke mitnehmen. Unsere Dokumente und das Allernötigste. Ansonsten mussten wir alles zurücklassen.

 

Ihr habt bestimmt Familie und Freunde, die noch in der Ukraine sind?

Marina: Ja. Wir haben viel Kontakt mit meinem Bruder und seiner Frau. Außerdem ist unsere 22-jährige Tochter Mariam noch dort. Sie ist bei ihrem Freund geblieben, der in der ukrainischen Armee dienen muss. Wir machen uns sehr große Sorgen und haben Angst – vor allem um unsere Tochter.

 

Was vermisst du denn am meisten an zu Hause?

Adrian: Meine Freunde und meinen Computer.

 

Und die Schule? Vermisst du die auch?

Adrian: Nein. Ich mag nicht so gerne zur Schule gehen.

 

Das kann ich gut verstehen. Hast du denn im Moment Unterricht?

Adrian: Im Moment noch nicht, aber nach den Osterferien kann ich hier zur Schule gehen.

 

Wie war die Ankunft in Münster und eure ersten Eindrücke?

Aziz: Die Menschen, die uns in Empfang genommen haben, waren sehr nett zu uns. Sie haben gefragt, was wir benötigen und was sie für uns tun können. Sei es Essen, Trinken oder Kleidung.

 

Marina: Es waren alle unheimlich nett zu uns und sehr liebenswert. Zudem war es leise hier – im Vergleich zu unserem Zuhause. Hier ist es sehr friedlich. Das war für uns und vor allem für die Kinder am allerwichtigsten. Wir konnten uns seit Tagen das erste Mal wieder sicher fühlen.

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Wie gefällt es dir in Münster, Adrian?

Adrian: Gut. Ich spiele Fußball bei Münster 08 und habe schon viele Freunde gefunden. Die Menschen hier im Haus mag ich auch. Aber ich vermisse auch unser Zuhause.

 

Fühlt ihr euch mittlerweile angekommen, wenn man das überhaupt so sagen kann? Schließlich habt ihr nicht geplant, plötzlich in einem fremden Land zu leben.

Marina: Das stimmt. Es ist eine sehr schwere Zeit für uns. Die Situation und alles andere ist komplett neu und ungewohnt. Wir sprechen und verstehen kein Deutsch. Außerdem sind mein Mann und ich nicht mehr die Jüngsten. Ein Neustart im Leben ist unter diesen Umständen nicht leicht. Aber wir sind wohlauf und zusammen – das ist das Wichtigste.

 

Aziz: Wir hatten wie alle anderen, die geflüchtet sind, niemals damit gerechnet, mit nichts in einem anderen Land von Neuem zu beginnen. Und die deutsche Sprache ist sehr kompliziert.

 

Und Amelia und Adrian, wie kommen die beiden mit der Sprache zurecht? Kinder haben es ja meist etwas einfacher, neue Sprachen zu lernen.

Marina: Dadurch, dass die beiden auch viel Kontakt zu anderen Kindern haben, die deutsch sprechen, können sie schon mehr sagen als wir. Doch seit Kurzem machen wir alle gemeinsam einen Deutsch-Online-Kurs. 

 

Wie kommen die beiden generell mit der ungewohnten und völlig neuen Situation zurecht?

Marina: Mittlerweile, nach über drei Wochen, geht es beiden immer besser. Aber vorher hat man beiden den Stress angemerkt. Sie waren sehr schüchtern und haben sich unwohl gefühlt. Die Sprachbarriere war groß und sie kamen zunächst schlecht in Kontakt mit anderen Kindern.

 

Was gefällt euch denn besonders an Münster?

Marina: Ich mag die Natur um uns herum. Münster ist eine sehr grüne Stadt mit vielen Grünflächen und sehr vielen Bäumen.

 

Hattet ihr vielleicht schon die Gelegenheit, die Stadt ein wenig zu erkunden, vielleicht ein wenig Sightseeing zu machen?

Aziz: Etwas schon. Wir waren in der Innenstadt zum Beispiel, die uns sehr gefallen hat. Ansonsten sind wir viel in der näheren Umgebung unterwegs und häufig bei den Ämtern in der Stadt.

 

Gibt es etwas, was man ändern könnte, um es leichter für Geflüchtete bei ihrer Ankunft zu machen?

Marina: Um ehrlich zu sein, gibt es schon Dinge, die man anders gestalten könnte. Aber in meiner Lage möchte ich mich in keiner Weise über irgendetwas beschweren. Das Einzige, was ich sagen möchte, ist: Danke. Danke für alles. Man hat bereits genug für uns getan. 

 

Aziz: Die Regierung und insbesondere die Menschen, die hier vor Ort für uns da sind, geben ihr Bestes. Und dabei war niemand darauf eingestellt, dass plötzlich Menschen aus der Ukraine vor einem Krieg fliehen würden. Manchmal wünschen wir uns lediglich ein paar mehr Informationen über Dokumente, die wir benötigen, und wo wir diese bekommen. Eine Art Übersicht, auf der steht: Ihr benötigt Dokument XY und findet diese in jenem Gebäude.

 

Das ist allerdings ein typisch deutsches Problem. Anträge an Behörden zu stellen ist in Deutschland oftmals eine knifflige Angelegenheit, die Zeit und Geduld beansprucht. Wie sehen eure Pläne für die Zukunft aus?

Marina: Der erste Schritt ist, dass unsere Kinder zur Schule gehen können. Wir möchten, dass der Alltag der beiden so normal wie möglich ist. Als Nächstes müssen wir Deutsch lernen. Das ist sehr wichtig, um uns so gut wie möglich an das Land, die Menschen und die neue Lebenssituation anzupassen. Außerdem beantragen wir einen Aufenthaltsstatus. Den brauchen wir, damit wir vorausschauen können. 

 

Wie lange dauert es, bis ihr den Aufenthaltsstatus bekommt?

Aziz: Das wissen wir leider nicht. Wir waren beim zuständigen Amt für Flüchtlingsangelegenheiten und haben Mails geschrieben, aber warten schon länger auf eine konkrete Antwort.

 

Habt ihr vor, in Deutschland zu bleiben?

Marina: Das wissen wir nicht. Wir können derzeit nicht so weit in die Zukunft planen. Wir wissen nicht, wie lange der Krieg noch dauern wird. Wir wissen auch nicht, ob wir überhaupt hierbleiben können, wenn der Krieg irgendwann vorbei sein sollte. Aber wir können uns vorstellen, in Deutschland zu bleiben.

 

Aziz: Und wenn wir zurückgehen, wird es niemals wieder so sein wie vor dem Krieg. Allein wenn man sich die Zerstörung in den großen Städten anschaut und eben auch in Charkiw. Es wäre schön, wenn ich hier in naher Zukunft einen Job kriegen könnte, am besten in meinem alten Beruf als Elektroingenieur.

 

Wisst ihr denn, ob und wann ihr die Möglichkeit bekommt, in Deutschland arbeiten zu können?

Marina: Nein, das wissen wir leider nicht. In den sozialen Medien haben wir erfahren, dass man höchstens als Putzkraft, Altenpflegerin oder Busfahrer einen Job bekommt als Flüchtling aus der Ukraine. Dem wären wir natürlich nicht abgeneigt, aber wir sind eben auch nicht mehr die Jüngsten.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch. Ich wünsche euch das Beste für die Zukunft und dass ihr euch immer willkommen und wohl in Münster fühlt.

Marina: Wir möchten uns bedanken. Bei allen Menschen aus Münster und der ganzen Stadt. Danke für die Unterstützung und die großzügige Hilfe. Mein Herz ist voll tiefer Dankbarkeit für die Humanität, die uns hier entgegengebracht wird.

 

Aziz: Ganz genau. Vielen lieben Dank für alles.

 

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INFO

Am 5. März erreichen die 1979 geborene Marina, der elfjährige Adrian und siebenjährige Amelia Münster. Zwei Tage später kommt auch der 1969 in Nigeria geborene Ehemann Aziz in der Flüchtlingsunterkunft an. Die 22-jährige Tochter Mariam bleibt in Charkiw, der Heimat der Familie Abdulmalik. 

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Autor Tim Schaepers / Illustration Thorsten Kambach / Fotos Aziz und Marina

Erstmalig erschien dieser Text in Stadtgeflüster Interview Mai 2022

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