Annette Frier erklärt Dominik Irtenkauf, wie man eine Krankheit vor der Kamera darstellt
Annette Frier wurde durch die „Wochenshow“ und „Danni Lowinski“ einem größeren Publikum bekannt. Als Ella Schön spielt sie eine Referendarin mit Asperger-Syndrom. Eine ungewöhnliche Figur, die mehr Gefühl für diese Krankheit erweckt. Die Rolle der Ella Schön steht Frier gut. Vor allem erweitert das Format das Wissen über diese herausfordernde Krankheit etwas weiter, die häufig unerkannt bleibt. Warum das so ist, war auch Teil des folgenden Telefonats.
MIT ASPERGER IM LEBEN
Sie spielen eine Frau mit Asperger-Syndrom. Vom Inhaltlichen und Spielerischen ist das sicher eine besondere Herausforderung?
Absolut. Ich fand das toll, allerdings erforderte diese Rolle logischerweise viel Zeit und Vorbereitung.
Wie haben Sie sich vorbereitet?
Einerseits durch Internet-Recherche beziehungsweise Gespräche mit Betroffenen, andererseits durch den Versuch, sich das irgendwie in den Körper zu schießen.
Was heißt „schießen“ in diesem Kontext?
Naja, letztlich ist es ja der Versuch, Synapsen im Gehirn zu konditionieren, dass sie sich als Ella, nicht als Annette verbinden. Nimmt der Körper das an? Das kann man nicht bestellen. Ich habe im ersten Jahr für die Dreharbeiten wochenlang daran herumgefeilt. Das hat auch jetzt im zweiten Jahr Spaß gemacht und ich dachte ursprünglich: Das ist bestimmt wie Fahrradfahren – ich stelle mich hin und dann klappt es gleich wieder. Dem war aber nicht so.
Sie mussten das wieder reaktivieren?
Ja. Es hat ein paar Tage gedauert … Das kenne ich sonst nur vom Tennisplatz, dass du immer wieder die Vorhand ins Netz knallst und irgendwann geht der Ball doch wieder einigermaßen regelmäßig übers Netz. Ich musste wie bei einer Art Training diese Schritte stets aufs Neue wiederholen.
Klingt anstrengend! Sie halten das ja auch eine ganze Folge durch. Es sollte keinesfalls krampfhaft ausschauen.
Genau. Das ist die Aufgabe. Ellas roboterhafte Sprache könnte etwas krampfhaft klingen. Eine Sache ist die reine Sprechtechnik, viel schwieriger wird es, diese mit Inhalt zu füllen. Dieses formale Sprechen entsteht letztlich durch eine permanente Reizüberflutung, die zu kompensieren versucht wird. Für mich als Schauspielerin ein komplexer Vorgang.
Für Asperger-Autisten ist das dann zu viel?
Ja. Mir ging es beispielsweise mal so, als ich in New York war. Da war ich reizüberflutet von den Häusern, den Gerüchen, von den Menschen, den Bussen, Feuerwehrautos und vom Lärm auf der Straße. Drei Tage war ich völlig erschlagen. Das hat mir geholfen, an dieser Figur zu arbeiten, weil ich genau weiß, wie ich auf Reize reagiere.
Wie denn?
Ich muss mich permanent konzentrieren, um mich zu vergewissern, wo ich bin. Ich gehe da mit diesem Flow mit. Das ist vergleichbar. Ein Asperger muss sich konstant konzentrieren, um nicht dazustehen und zu rufen: STOP! Moment! Ruhe!
Andererseits steht die von Ihnen dargestellte Rolle der Ella Schön gerade mit dieser Einschränkung mitten im Leben. Ihre Tätigkeit bei der Anwaltskanzlei scheint ideal. Doch als Problem stellt sich der soziale Kontakt, mehr noch: der soziale Umgang, dar.
Ja, es ist völlig anders, als wir das wahrnehmen. Man muss das ein bisschen wie eine Sprache lernen. Das ist etwas, das kannst du nicht von draußen nach innen lernen, sondern von innen nach draußen: Das heißt, ich musste sämtliche Vorgänge auf Logik und Raster abfragen – man ist in dieser Figur gedanklich permanent beschäftigt. Das könnte es am besten erklären.
Sie ringen ein wenig nach Worten, scheint mir?
Es ist schwierig zu beschreiben, weil der Vorgang weniger intellektuell als vielmehr körperlich ist. In dem Sinne, dass wir im Hirn Synapsen so verbinden, wie wir es gewohnt sind. Selbst wenn ich einen Mörder spiele, gehe ich da stets als Annette ran. Ich höre was, ich lese was im Gesicht des Gegenübers – und das ist meine Reaktion. Auf die Aktion folgt die Reaktion.
Bei Asperger ist das anders?
Selbstverständlich hat der Asperger das auch, aber der hat ganz andere Mechanismen, gänzlich andere chemische Verbindungen im Kopf. Ich kann natürlich nur versuchen, das herzustellen. Ich bin ja keiner. Man muss sich das quasi über einen Umweg anlernen.
Wenn Sie sagen, dass das vor allem körperlich ist, muss man den Körper in diese Position bringen und halten?
Absolut. Ich weiß nicht, ob Sie diese Situation kennen, wenn Sie eine neue Sportart erlernen? Beispiel Golfplatz. Sie müssen erstmal den richtigen Golfschwung üben. Natürlicherweise würden Sie ganz anders zum Schlag ausholen. Da helfen nur Übung und Wiederholung.
Nach der Drehpause mussten Sie sich also wieder in den Zustand versetzen.
Genau. Es dauerte. Ich war selbst ein wenig erstaunt, dass das nicht mal so eben geht. Man muss sich dieser Reizüberflutung ausliefern, all den Dingen, die um einen rum passieren. Wenn so dreißig Leute am Ort arbeiten, da ist immer was los und viel Bewegung. Dieses Gewusel konnte ich gut nutzen. All das habe ich wie auf einer Volume-Skala voll aufgedreht, um in eine Art Asperger-Modus zu geraten. (Wir vermeintlich normale Menschen haben eine Art Filter, eine Mauer um uns herum, die hat der Asperger nicht).
Eigentlich überlegt man da nicht sonderlich viel!
Absolut: Etliche Prozesse im echten Leben laufen unterbewusst ab. Wenn ich zum Beispiel meine Kinder zur Schule fahre, mache ich mir keine Gedanken über den Weg. Ich mache mir nicht eine Sekunde bewusst, was ich da gerade tue. Ich fahre den Weg in einer Art Trance ab.
Wir vertrauen diesen Mechanismen im täglichen Leben?
Wir sind permanent auf so einer Art Lebens-Autobahn, wie ferngesteuert. Wir machen uns die täglichen Dinge so gut wie nie bewusst, weil sie so selbstverständlich scheinen … insofern sind wir ja selbst ein bisschen roboterhaft unterwegs.
Quasi automatisch?
Ja, genau. Man spielt sich die Bälle zu und man hat auch nicht die Kraft, sich permanent hinzustellen und zu fragen: Wie ist denn gerade das Wetter? Was sind denn hier noch für Leute? Was verursachen die für Geräusche? Eigentlich passiert genau das in diesem Moment. Aber wir blenden das aus. Wir fahren auf unserer Maschine so durch den Tag. Das ist schon interessant. Wir erleben dieselben Dinge wie ein Asperger. Nur nimmt der Betroffene diese vollkommen anders interpretiert wahr. Reizüberflutung statt Autobahn. (Lacht)
In der Folge „Die nackte Wahrheit“ geht es ja an die Substanz! Diese Geschichte mit der vorgespielten Demenz, dass die Ella Schön einen über-nüchternen Blick darauf wirft. In der Folge kann sie durch diesen Abstand als Vermittlerin einspringen, weil sie eine ungewohnt sachliche Perspektive zu dem Problem einnimmt.
Daher mag ich die Reihe so gern: Man würde meinen, der Asperger lernt die Reaktionen von den sogenannten „normalen Menschen“, aber oft ist es andersrum. Ella Schön betrachtet die Situationen quasi durchs Brennglas. Sie sagt: Das ist so und so. Das ist das, was ich hier sehe. Ich sehe, dass Sie hier eine Blockade haben! Wenn Ella wie ein Therapeut alles unter die Lupe nimmt – nicht gerade empathisch, aber dafür sehr ehrlich – werden die vermeintlich normalen Leute permanent hinterfragt, wo sie eigentlich gerade in ihrem Leben sind.
Unkonventionell fand ich es, weil ich nicht genau wusste, ob diese Person tragikomisch oder vielleicht doch auf besondere Art und Weise komisch ist.
Ja, klar ist sie komisch! Ich finde außerdem gut, dass es so kleine Fälle sind. Da wird nicht solch ein Mörderplot aufgemacht. Das sind ja relativ alltägliche Probleme. Wie mache ich das mit einer Erbschaft? Wie halte ich das Kind für vielleicht geeigneter, um solch einen Betrieb zu übernehmen? Das erwählte Kind will aber gar nicht – sein Bruder will. Ich glaube, das sind einfach typische Lebensthemen, die ohne Mord und Totschlag auskommen, aber dennoch Riesenkonflikte, die so dahin schwelen.
Und es spielt in der Familie ...
Gerade Familienkonflikte passen super zu solch einer Figur. Die stellt diese Themen durch ein paar Handgriffe in den Raum und dann merkt man: Wow, das ist die Baustelle, mit der ich es zu tun habe. Die anderen Figuren reden die Probleme den ganzen Tag weg und klein. Aber eigentlich ist das (!) das Problem. Ella stellt diese Verdrängungen durch ihre direkte Art bloß.
Ich finde gut, dass Ella Schön einen forensischen Blick auf diese Alltagsfälle entwickelt.
Ein gutes Beispiel dafür ist auch die skandinavische Serie „Die Brücke“. Da agiert eine Kommissarin, die wahnsinnig inselbegabt und fokussiert ist. Ich finde diese Produktion toll, sehr inspirierend. Trotzdem haben wir unsere Geschichten ins private Umfeld gesetzt. Das Ungewöhnliche an der „Ella Schön“-Reihe ist auf jeden Fall, dass da zwei Frauen in einer WG zusammenleben, mit drei Kindern. Dadurch rücken wir das Thema Familie ins Zentrum. Es spielen eben nicht 80 Prozent des Films im Morddezernat, es funktioniert trotzdem. Zwei Frauen, die denselben Mann hatten und unterschiedlicher nicht sein könnten – das bietet viel Stoff für Komik! (Lacht)
Ich finde interessant, dass angesprochen wird, wie eine Frau mit Asperger-Syndrom eine Ehe oder Partnerschaft leben kann. Das ist sicher nicht einfach!
Nein, gar nicht. Ich kann Ihnen sagen, Asperger ist grundsätzlich auch nicht immer wahnsinnig witzig oder charmant. Im Gegenteil. Für Betroffene und Angehörige ist es sehr anstrengend. In erster Linie ist das ein Handicap. Schön, wenn jemand unverblümt stets die Wahrheit sagt, aber wahnsinnig mühevoll.
Kann ich mir gut vorstellen!
Gesellschaftlich ein großes Problem, denn die Leute sehen es ja nicht. Es steht nirgendwo Asperger drauf. Es gibt eine große Dunkelziffer von Betroffenen. Der nicht diagnostizierte Asperger ahnt häufig gar nichts von seinem Handicap und wundert sich, dass er sich immer so falsch fühlt.
Bei diesem Elternabend in der Folge wird das gar nicht genannt. Die anderen Eltern denken dann, das ist aber eine komische Kuh.
In einem Dorf hat es den Vorteil, dass es sich herumspricht, aber wenn jemand in einer Großstadt wohnt und jeden Tag bei einem anderen Bäcker ist?
Dann taucht er ab und findet nicht so leicht raus.
Wenn ich weiß, dass ein Kind ADHS hat, gehe ich mit dem Kind ganz anders um. Wenn ich das nicht weiß, nervt mich das Kind höchstwahrscheinlich. Also denke ich mir: Was ist denn mit dem Kind los? Haben die Eltern das nicht im Griff – oder ähnliche bescheuerte Gedanken, die man dann hat. Sehe ich jemanden, der nur miesepetrig irgendwo rumsteht und nicht mal Guten Tag sagen kann, ist meine erste Reaktion ja nicht: Ach, der arme Asperger! Das ist ja richtig anstrengend, mich zu grüßen! Sondern man denkt in der Regel erstmal: Was ist denn das für ein Arschloch!?
Oder man sagt: So ein Nerd! Denn der Umgang mit Zahlen gelingt diesen Menschen ja immer besonders gut.
Ja, solch eine Inselbegabung trifft zwar nicht auf jeden zu, aber für unser Format war das natürlich ein dankbares Thema! Es ist in der Tat oft so, dass Leute mit Autismus in einer Sache besonders gut sind. Das hat nicht unbedingt mit einer überdurchschnittlichen Begabung zu tun.
Sondern?
Sie sind das oft aus der Not heraus. Sie wissen, in emotionalen Dingen kann ich nicht punkten, das schaffe ich nicht, das überfordert mich, aber hier in solch einer Logikaufgabe kann ich mich entspannen. Ich will damit sagen, das ist nicht unbedingt ein genetisch bedingtes Talent für Rechnen etc., sondern etwas, das man einfach viel besser ausbildet als andere Stränge.
Im Unterschied zum Deutschaufsatz ist der Interpretationsspielraum bei Mathe ein anderer. Da kann man sich besser an die Regeln halten.
Genau. An eine Struktur.
Noch eine Frage zur Vergangenheit: Die Stand-up-Comedy hilft Ihnen wahrscheinlich immer noch beim Schauspielern?
Ja, wenn man gelernt hat, pointiert zu spielen, schadet das selten. Übrigens häufig auch nicht in der Tragödie. Von mir aus könnte sich dort das Tempo oft auch ein wenig beschleunigen.
Sicher muss es nicht immer getragen und melancholisch bleiben.
Nein, das will man als Mensch ja auch nicht.
Aber bereits in der griechischen Tragödie gibt es Verstrickungen, unerkannten Totschlag, Kriegshandlungen. Da gab es immer auch schon Tempo. Aber das wurde irgendwann wieder rausgenommen!
Im sogenannten Arthouse wird oft sehr elegisch erzählt. Kann auch schön sein. Ist hier aber gar nicht gefragt. Ella Schön redet, glaube ich, doppelt so schnell wie ich. Und ich rede jetzt nicht wirklich langsam.
Nein. Das auf keinen Fall! Vielen Dank.
Bitte.
INFO
In Köln geboren, spielte in mehreren Serien wie „Hinter Gittern – der Frauenknast“, „Switch“, „SK Kölsch“, „Du und Ich“ und „Danni Lowinski“ mit. Für den Film „Nur eine Handvoll Leben“ wurde sie von der Lebenshilfe mit dem BOBBY für vorbildliches Engagement für Menschen mit Behinderung ausgezeichnet.
Viele, viele weitere Infos zur Annette Frier erfahrt Ihr am besten hier:
Autor Dominik Irtenkauf / Illustration Thorsten Kambach
Erstmalig erschien dieser Text in Stadtgeflüster Interview
März 2019
Alle Rechte bei Stadtgeflüster – das Interviewmagazin vom