
Peter Sauer spricht mit Marius Nitzbon über Freiheit, Gehörschutz und lettische Nächte
HAMBURG IST DIE PERLE, MÜNSTER DIE KIRSCHE
Ob E- oder U-Musik, ob laut oder leise: Marius Nitzbon passt mit seiner Musik in keine Schublade. Der Mainstream ist weit entfernt. Das ist auch gut so. Nitzbon komponiert, spielt und produziert sich selbst. Authentisch, profund und erfrischend anders. Seine Neo-Klassik begeistert nicht nur bundesweit, sondern hat ihn auch schon nach Lettland geführt. Mitten in den Tour-Proben konnten wir mit ihm sprechen.
Wenn ich Dein Album „Birds are my Friends“ so höre und mir Deine Videos am leeren Meeresstrand oder im Wald ansehe, habe ich keinen Zweifel: Du liebst die Natur, oder?
Ja, vor allem, wenn die Natur so farbenfroh und intensiv aufbricht wie im Frühjahr. Am schönsten ist es für mich, wenn die Kirschen blühen, wie in der Schulstraße oder bei der Herz-Jesu-Kirche. Da muss man gar nicht woanders hinfahren. Und ich liebe die Umstellung vom Winter zum Frühling, diese Stimmung, wenn es abends länger hell ist.
Apropos woanders hinfahren. Dein Album hast Du nicht in Münster aufgenommen, sondern weit weg von jeder Kirschblüte …
Mein neues Album „Birds are Friends“ habe ich in der Abgeschiedenheit des lettischen Städtchens Kuldiga beim Klavierbauer David Klavins aufgenommen.
Warum dort?
Weil der berühmte Klavierbauer David Klavins eine beeindruckende Sammlung von außergewöhnlichen Klavieren hat. Mein ehemaliger Musiklehrer von der Schule, Herr Sieveking, dem ich viel zu verdanken habe, hat mich schon früh auf David Klavins gebracht, sein besonderes leises und damit auch feines Klavier zum Beispiel, und auf Minimalisten wie Philipp Glass und Nils Frahm.
Was hast Du bei Klavierbauer David Klavins in Lettland gemacht?
Ich habe auf dessen „Una Corda“ aufgenommen – ein von David Klavins und Nils Frahm entwickeltes Piano, das über nur eine Saite pro Ton verfügt und einen ganz besonderen Klang hat. Anders als normale Pianos hat das „Una Corda“ statt drei nur eine Saite pro Ton.
Ah, also aus dem Italienischen, „una corda“. Und wie klingt dieses besondere Instrument?
Ein bisschen wie ein E-Piano oder eine Harfe, auf jeden Fall mit einem eigenen, authentischen Klang.
Wie ist es im Vergleich zu einem handelsüblichen Piano?
Das „Una Corda“ ist am Ende des Tages ein Klavier mit Tasten, wie jedes andere auch. Doch es klingt sehr pur. Es hat ein großartiges Eigenleben, im Klang und Ausdruck.
Und wie ist der Klang so?
Der Klang ist, lass mich kurz überlegen, ja, der Klang ist ein wenig klarer, heller und leichter als der eines normalen Pianos. Also inwendiger, tiefer, subtiler – ja, wenn es ein Wesen wäre, empathischer.
Und warum bist Du nach Lettland gereist, ein ziemlich weiter Weg, oder?
Oh ja. Ich wollte unbedingt bei David Klavins aufnehmen, aber ich wusste vorher nicht, dass er von Deutschland nach Lettland gezogen war. Also musste ich nach Lettland. Aber es war wirklich eine tolle Zeit, die ich mit meiner Musik, meinen Ideen, meinen Gedanken und Empfindungen dort erleben durfte.
Wann hast Du Dein Album dort aufgenommen?
Immer nur immer nachts habe ich die Songs aufgenommen. Insgesamt zehn Tage hatte ich mich dort eingemietet. Nachts war es ruhiger und auch vom Studiopreis her vom Tarif günstiger (Marius schmunzelt). Daher hat mir David Klavins erlaubt, sein Studio außerhalb der regulären Zeiten zu nutzen, so abends ab 20 Uhr bis morgens. Und ab 4 Uhr hörte man aus der Stille heraus die Vögel von draußen. Ich hatte in dieser Zeit Druck, da ich ja dann alles in diesen zehn Nächten fertig machen musste.

Also musste ich dann selbst nach Lettland.
Bist Du sehr selbstkritisch?
Oh ja, ich lege großen Wert auf audiophilen Klang, was die Produktion betrifft und natürlich, dass die Songs so letztlich auf Vinyl oder auf CD kommen, das sie auch meine Songs sind, mein Ausdruck, mein Empfinden, mein Spiel und immer gepaart mit dem Raumklang. Große Räume verzeihen einem einfach mehr. Weniger Resonanzwellen, die stören und Raumklang sehe ich fast schon als Instrument.
Guter Gedanke bei den wahrscheinlich nicht gerade günstigen Reisekosten. Und Du lässt bei Deinen Aufnahmen in Lettland nicht nur das signifikante Klackern der Pianomechanik, sogar auch die dort heimischen Vögel von draußen rhythmisch zu Deinem Klavierspiel im Song „short jumps“ piepsen …
Ja, alles, was zur Stimmung dazugehört. Bei einem anderen Stück hört man zum Beispiel auch, wie ich vom Klavier aufstehe und weggehe. Mir gefallen solche Geräusche immer sehr, weil ich beim Zuhören dadurch das Gefühl bekomme, man wäre im selben Raum wie die Musiker.
Deine Stücke wirken oft sehr resilient. Wie wichtig ist Dir Stille?
Stille ist ein Stilelement. Dadurch schafft man es, Musik eine Tiefe zu geben, Musik in ihrer Ursprünglichkeit zu erfassen, die meist organisch ist. Ich finde es am deutlichsten, wenn man mit SängerInnen arbeitet. Beim Singen muss man immer irgendwann absetzen, um zu atmen. Die Melodieführung besteht aus Pausen, sie geben den Phrasierungen ja erst Bedeutung. Ich lerne da sehr viel von meinem Sänger meiner Band KARRERA. Minimalistische Musik finde ich sehr inspirierend. Davon kann man sehr viel lernen. Als Gegenstück zum hektischen und lauten Alltag.
Wie kommst Du mit dem Lärm unserer Zivilisation denn so klar?
Ich habe Bauarbeiter-Gehörschutz auf, wenn ich zum Beispiel meine Spülmaschine ausräume, weil das Klackern des Geschirrs für unangenehme Sequenzen sorgt. Wenn das Leute sehen, denken sie sicher, ich habe einen Knall. Manchmal vergesse ich es, danach meinen Gehörschutz wieder abzulegen und genieße die Stille.
Was fasziniert Dich so am Klavier?
Mich fasziniert, dass man am Klavier mehrere Stimmen gleichzeitig spielen kann. Zusätzlich zum Rhythmus und zur Melodie hat man die Harmonie. Ich kann mit der linken Hand die Akkorde spielen. Das ist ein sehr spannendes Zusammenwirken.
Hast Du drei Hände? Dein Album klingt manchmal so …
Mein Vorteil ist, dass ich sehr lange Finger habe.
Liebst Du das Bittersweete?
Auf jeden Fall, als Schönheit in der Melancholie, ich mag das! Ich finde auch, dass man vieles erst durch eine gewisse Melancholie verarbeiten kann.
Deine Songs finden eindrucksvolle Balancen zwischen ruhig und dynamisch. Wie wichtig sind Dir diese Wechsel?
Das Unerwartete reizt mich, zwischen ruhig, dynamisch und ruhig. Im Idealfall verschmelze ich mit dem Klavier. Spannend finde ich auch die Wechsel zwischen akustisch und elektronisch. Das Überraschende ist mir wichtig.
Wann kommen Dir die Ideen für Deine Songs?
Die besten Ideen für meine Songs kommen mir in Situationen, in denen ich eigentlich gar nicht an Musik denke. Dann singe ich auch schonmal Melodien in die Memo-App meines Smartphones ein.
Deinem Song „Another“ hast Du mehrere Updates verschafft. Hast Du jetzt die finale Fassung gefunden?
Eine gute Frage. Die erste Fassung von „Another“ habe ich geschrieben, als ich 16 oder 17 war. Für ein Filmmusikprojekt, das mir mein Musiklehrer vermittelt hatte. Der Song war für mich ein Startsignal als Komponist, Musiker und Produzent und begleitet mich seither.
Spielst Du eigentlich nur nach Noten?
Ich kann nach Noten spielen, habe ich gelernt, aber ich spiele lieber nicht nach Noten, sondern vielmehr nach Gehör.
Warum machst Du eigentlich alles allein, was Deine Musik betrifft?
Beeinflusst von meinem älteren Bruder Tobias, Schullehrer Martin Sieveking und meinem Dozenten Henning Verlage reifte in mir der Wunsch absoluter Freiheit: meine eigene Musik aus mir heraus zu komponieren, zu spielen und selbst aufzunehmen. Aber ich möchte auch erwähnen, dass die Leute vom Musikvertrieb, vom Booking, die Videografin und Managerin sowie Freunde und Familie einen erheblichen Einfluss haben, ohne die ich das alles nicht so machen könnte.
Ist es nicht schwierig, sich selbst zu produzieren?
Ja. Manchmal brauche ich 50 bis 100 Takes, bis ich das Gefühl habe, ich hätte endlich den richtigen Take. Manchmal habe ich aber dann doch den ersten Take genommen.

Deine Musik lässt darauf schließen, dass Du ein sehr inwendiger Mensch bist. Wie introvertiert bist Du?
Ich bin introvertiert, ja, aber auch extrovertiert. Ich bin sehr gerne mit meinen Freunden unterwegs, jogge am Kanal, mache Fitness. Ich finde es spannend, die eigenen Demos nicht immer im gleichen Setting zu hören. In der Bahn hört man einfach anders als in seinem Studio. Oder im Café mit lautem Gerede merkt man vielleicht erst, ob der Song, an dem man grad arbeitet, sich durchsetzt und hängen bleibt. Während meiner Arbeit bin ich introvertiert, aber außerhalb der Arbeit gerne unter Leuten.
Ich finde, Deine Musik hat eine entspannende wie auch inspirierende Wirkung. Wie wirkt Deine Musik auf Dich selbst?
Danke schön! Tatsächlich geht es mir ähnlich, dass wenn mein Kopf brummt vor zum Beispiel bürokratischer Arbeit am Laptop, dann ist oft der einzige Ausweg für mich, sich ans Klavier zu setzen und einfach vor mir her zu improvisieren. Ähnlich wirkt aber auch Kochen, Sport oder Staubsaugen. Allesamt motorische Dinge, die meditativ wirken.
Am 19. Mai stellst Du Dein neues Album in der „Pension Schmidt“ vor. Zweifelsohne eine tolle Location, aber nicht so leise wie Theater oder Opernhaus. Hast Du keine Sorge, dass dafür Deine Musik zu leise sein könnte?
Ganz im Gegenteil. Meine Musik gehört ins Leben. Auch dorthin, wo sich Menschen treffen, die miteinander eine gute Zeit verbringen. Es ist auch besonders spannend für mich mitzubekommen, wie meine Musik so ankommt und wirkt und wie mich die besondere Stimmung in der „Pension Schmidt“ dann beim Live-Konzert selbst inspiriert.
Was kann das Publikum erwarten?
Ich werde mein neues Album „Birds are my Friends“ das erste Mal in Münster live vorstellen.
Live passt auch gut, weil Deine neuen Songs mehr Dynamik besitzen als die von den Vorgängeralben. Das ist sicherlich nicht unwichtig, oder?
Richtig. Für das Mindset der Leute zu Hause, wenn sie meine Musik im Stillen, am besten per Kopfhörer hören kommen die ruhigen Stücke besser. Auf der Bühne braucht es auch etwas mehr von den kraftvolleren Passagen.
Du trittst ganz allein auf?
Ja.
Chapeau.
Danke. Also ich spiele live am Klavier und habe meine analogen Synthesizer und Effektgeräte dabei, unter anderem ein altes Tonband-Hallgerät aus den Siebzigern und auch Beats, die mit meinem Computer erzeugt werden. Alles handgemacht und live.
Fremdes Sampling also Fehlanzeige?
Richtig. Dazu spiele ich beim Live-Konzert in der Pension Schmidt am 19. Mai ausgewählte Stücke aus meinem vorherigen Album Little Human (2022) und sogar neue Stücke, die es sonst wo noch gar nicht zu hören gibt.
Ok, Du hast die ersten 20 Jahre Deines Lebens in Hamburg verbracht und bist dann zum Studium nach Münster. Hand aufs Herz: Was liebst Du am westfälischen Münster, was die Hansestadt Hamburg nicht hat?
Die gute Überschaubarkeit und die sehr gute Erreichbarkeit mit dem Fahrrad, zu allen Orten kommt man in Münster gut hin. Diese Fahrradfreundlichkeit ist klasse. Dazu brauche ich in Hamburg Bus und Bahn. Und in Hamburg würde ich als Radfahrer wahrscheinlich eher vom Auto überfahren als in Münster.
Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Deiner Geburtsstadt Hamburg und Deiner Studienstadt Münster?
Beide haben einen wunderbar schönen See in der Mitte, Hamburg die Alster, Münster den Aasee. Beide haben einen Kanal bzw. Fluss mit Hafen, auch wenn der in Münster doch deutlich kleiner, aber nicht weniger schön ist. Der Hauptbahnhof ist in Münster auf jeden Fall schöner und sauberer als der in Hamburg.
Wenn Hamburg die Perle ist, was ist das Münster?
Die Kirsche!
Diese Antwort kam blitzschnell …
Ich liebe einfach Kirschen, die blühen. Und in Münster blühen sie besonders schön und vielfältig.
Marius Nitzbon
Er kam vor 25 Jahren in Hamburg-Bergedorf auf die Welt. Er lebt in Münster, zwischen Ring und Hafen. Sein Album „Birds are my Friends“ stellt der minimalistische Neo-Klassiker am 19. Mai um 20 Uhr live in der Pension Schmidt (am Alten Steinweg 37) vor. Insgesamt gibt es drei Alben und eine EP von ihm. Nitzbon wirkt auch in der Band KARRERA mit, die ab 3. Mai tourt.
https://mariusnitzbon.com/
VIDEOLINK für ONLINE:
https://www.youtube.com/watch?v=U4ASFterMck&t=2s;
https://www.youtube.com/watch?v=HkGzVL53HoU
Illustration Thorsten Kambach / Fotos Stella Romm & Julia Tiemann